Klaustrophobie

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Verwirrt betrachte ich Henrys Hinterkopf.
„Okay", flüstere ich und stehe vorsichtig auf. „Möchtest du lieber noch ein bisschen schlafen? Es ist schon nach zehn und ich dachte-"
„Ich will einfach nur meine Ruhe", seufzt Henry, ohne aufzuschauen.
Ich schlucke. Er will seine Ruhe. Unruhig trete ich von einem Fuß auf den anderen. Bedeutet das, er möchte, dass ich gehe? Und wenn ja, wohin soll ich gehen? Ich kenne hier niemanden. Wie ein Fisch schnappe ich nach Luft, denn ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Vielleicht ist er ein sogenannter Morgenmuffel. Ich kann es nicht wissen, ich habe ihn immer erst frühestens vormittags getroffen und weiß nicht, wie seine morgendliche Routine ist.

Ich beschließe, erst einmal duschen zu gehen. Zumindest bin ich dann nicht ganz in seiner Nähe und er hat die Möglichkeit, richtig aufzuwachen. Ich schleiche also ins Badezimmer und schließe leise die Tür hinter mir. Nachdem ich das Prinzip der Duscharmatur verstanden habe, denn sie ist anders als meine zu Hause, dusche ich lange und ausgiebig. Das Wasser ist warm und angenehm auf meiner Haut und irgendwie fühlt es sich weicher an als zu Hause.

Ich lasse mir Zeit beim Abtrocknen und schleiche anschließend zurück ins Zimmer, um mir frische Sachen aus meinem Koffer zu holen. Glücklicherweise hat Jennifer mir zu leichteren Sachen geraten, denn das Klima in Florida ist selbst im Dezember bedeutend wärmer. Ich ziehe mir mein dunkelblaues T-Shirt über und steige in meine hellgraue Jeans. Dann gehe ich zögerlich zum Bett und sehe, dass Henry noch genauso dort liegt wie zuvor. An der Bewegung seiner Schultern kann ich sehen, dass seine Atmung nicht mehr so gleichmäßig ist wie vorher, also scheint er wohl zumindest wach zu sein.

„Ich.. soll ich uns Frühstück bestellen?", frage ich zögerlich.
„Ich hab keinen Hunger", murrt Henry. Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe.
„Und.. wollen wir uns dann vielleicht die Stadt ansehen?", schlage ich verlegen vor.
„Kannst du mal aufhören zu reden? Ich will einfach nur meine Ruhe!", sagt er nun ungehalten und ich zucke zusammen.

Habe ich etwas falsch gemacht? Ist er wütend auf mich? Verzweifelt suche ich in meinem Kopf nach etwas, das ich getan haben könnte, das ihn verärgert hat. Ich stehe da und starre ihn an, doch er bewegt sich nicht. Er liegt nur da und sagt nichts. Zögerlich sehe ich zur Badezimmertür. Doch die Fliesen scheinen mir gerade nicht das Richtige zu sein. Ich muss nach draußen. Ich brauche einen Park und eine Bank und mein Buch.

Mit zwei langen Schritten gehe ich zum Sessel und nehme mein weinrotes Dezemberbuch und greife zuletzt noch nach meinem Handy, das noch immer auf dem Schreibtisch liegt.
„Ich.. nehme mein Handy mit, okay?", stottere ich.
„Mach doch", schnauzt Henry und ich befürchte, meine Unterlippe blutet gleich, so fest beiße ich darauf.

Ich stürze schon förmlich hinaus auf den Hotelflur und sehe gehetzt von links nach rechts. Zum Glück sehe ich ein Hinweisschild für das Treppenhaus und eile die Stufen hinunter. In der Lobby stoße ich fast mit einer kleinen, blonden Person zusammen.
„Oh, Entschuldigung, Mr. Page", sagt sie und ich erkenne Helen, die Auszubildende.
Ich schiebe mich wortlos an ihr vorbei und haste durch die große Drehtür aus Glas nach draußen in die Sonne.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?", fragt mich der Page in seiner zugeknöpften Uniform mit einem freundlichen Lächeln.
„I-ist hier irgendwo ein Park?", stammele ich.
„Ja, Sir. Etwa fünfzehn Minuten zu Fuß in diese Richtung." Er zeigt mit einer weißbehandschuhten Hand in eine Richtung und in diese beginne ich zu laufen.

Etwa zehn Minuten später sehe ich einen winzigen Park, der zwar nicht von Laubbäumen sondern von Palmen geziert ist, aber es gibt eine Bank und auf diese setze ich mich. Meine Unterlippe zittert nervös und das Brennen in meiner Brust ist zurück. Ich weiß nicht, was ich getan habe, aber Henry ist wütend auf mich. War es wegen dem Cafuné? Hat er doch etwas von mir erwartet? Aber wenn ich jetzt etwas sagen würde, würde er dann nicht denken, dass ich es nur sage, um ihn zu beschwichtigen? Und was soll ich sagen? Dass ich ihn liebe? Das weiß ich doch noch gar nicht. Wie kläre ich das mit ihm, wenn er seine Ruhe haben will?

Mein Handy klingelt und ich zucke zusammen. Das Brennen weicht den Schmetterlingen und ich ziehe das Gerät schnell aus meiner Hosentasche. Sofort ist der Knoten in meinem Brustkorb zurück. Es ist meine Schwester und nicht Henry.
„Hallo?", antworte ich.
„Max? Warum hast du dich nicht gemeldet?"
„Hallo Jenny, es war so viel auf einmal und ich war sehr erschöpft."
„Wie geht es dir?"

Kurz überlege ich. Was soll ich sagen? Gut? Das wäre gelogen, denn Henry ist wütend auf mich und-
„Max? Was ist los?", fragt mich die Person, die mich besser kennt als jeder andere.
„Ich weiß nicht", flüstere ich und merke, wie meine Stimme bricht.
„Ist was passiert?"
Ich zucke mit den Schultern und kann nicht antworten.
„Hat Henry was gemacht?"
„Nein", presse ich hervor.
„Was dann?"
„Ich weiß es nicht."
„Du machst mir Angst. Soll ich kommen?"
„Nein!", rufe ich. „Bitte nicht. Ich kläre das."
„Du klärst was? Habt ihr euch gestritten?"
„Ich weiß nicht. Ich rufe wieder an."

Damit lege ich auf und stehe entschlossen auf. Dieses Mal werde ich mich nicht wieder auf den Fliesen zusammenrollen und hoffen, dass Henry zu mir zurückkommt. Er ist mir wichtig und ich möchte, dass es keine Unstimmigkeiten zwischen uns gibt.

Mit langen Schritten gehe ich zurück ins Hotel und stehe kurz darauf wieder vor unserem Zimmer. Als ich die Tür öffnen will, fällt mir auf, dass ich nicht so eine kleine weiße Karte habe, mit der Henry uns gestern Zutritt verschafft hat. Zaghaft klopfe ich an das dunkle Holz und lausche an der Tür. Von drinnen ist nichts zu hören.
„Henry?", rufe ich, doch es kommt keine Antwort. Ich klopfe lauter und rufe wieder seinen Namen. Wieder höre ich nur Stille. Ist er gegangen? Wenn ja, wohin?

Ich eile die Treppen wieder nach unten und stehe zappelnd an der Rezeption. Ein uniformierter Mitarbeiter tritt heran und sieht mich fragend an. „Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?"
„Ja, ich.. ich brauche so eine Karte."
„Einen Stadtplan? Sehr gern", sagt er und wühlt in einer Schublade.
„Nein", sage ich. „So eine, mit der man das Zimmer öffnen kann."
„Haben Sie ein Zimmer bei uns?"
„Ja."
„Welche Zimmernummer?"

Ich überlege kurz und erinnere mich an das Schild neben der Zimmertür.
„1126", sage ich schnell.
„Und der Name?"
„Henry. Henry Page."
„Können Sie sich ausweisen, Mr. Page?"
„Äh.. nein, ich bin Maxwell Foster. Henry ist mein Freund. Er ist oben und macht nicht auf und-"
„Tut mir leid, Sir. Ich darf Ihnen keine Zimmerkarte ausstellen, wenn Sie nicht nachweisen können, dass Sie dieses Zimmer auch gebucht haben", sagt der Angestellte etwas schnippisch.
„Aber ich habe dort doch schon übernachtet, mein Koffer ist in dem Zimmer", widerspreche ich, doch er schüttelt den Kopf und zeigt mir damit, dass Diskussionen zwecklos sind.

Verzweifelt drehe ich mich um und möchte mich am liebsten auf dem Boden mitten in der Lobby zu einem Ball zusammenrollen und beten, aus diesem Albtraum aufzuwachen.
„Ist alles in Ordnung, Mr. Page?", sagt plötzlich eine freundliche Stimme neben mir. Helen, die Auszubildende.
„Oh, nein. Ich.. ich habe meine Zimmerkarte vergessen. Könnten Sie mir vielleicht behilflich sein?", frage ich verzweifelt.
„Natürlich, ich habe einen Masterschlüssel. Kommen Sie mit."

Helen geht auf die Fahrstühle zu und ich zucke merklich zusammen.
„K-könnten wir die Treppe nehmen?", stottere ich.
„Oh, natürlich", sagt sie freundlich und dreht zum Treppenhaus ab. „Meine Tante leidet auch unter Klaustrophobie. Sie nimmt auch immer die Treppe."
„Klaustrophobie?", frage ich.
„Ja, Angst vor engen Räumen, speziell Aufzügen."
„Oh", mache ich.
Vor unserer Zimmertür hält sie eine kleine weiße Karte, die an einer Kette in ihrer Weste befestigt ist, an das Schloss, das sich mit einem Klicken öffnet.
„Danke, Helen", sage ich dankbar.
„Sehr gern, Mr. Page", strahlt sie mich an und ich gehe leise in das Hotelzimmer.

Ich sehe sofort zum Bett und es ist leer. Mein Magen sackt mit einem Schlag nach unten und ich habe das Gefühl, dass der Boden unter mir sich in eine zähe Flüssigkeit verwandelt, so schwindelig ist mir.
Wo ist Henry?
Ein Geräusch aus dem Bad lässt mich zusammenzucken.

Ich öffne die Tür und dort sitzt er. Noch immer nackt, wie gestern Abend, zusammengekauert unter der Dusche, aus der kein Tropfen dringt. Seine Arme sind um seine Knie geschlungen und als er zu mir aufblickt, sehe ich sein tränenüberströmtes Gesicht.

Wortliebe | ✓Where stories live. Discover now