Clinomanie

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Ich liege nur in Boxershorts auf dem Badezimmerboden eines teuren Hotels. Die Fliesen unter mir sind warm und ich kann das Lächeln nicht aus meinem Gesicht streichen. Das Gefühl ist unglaublich schön. Ich beschließe, dass ich meine Eltern bitten werde, jemanden zu engagieren, der mir ebenfalls so eine Fußbodenheizung installiert, denn der Gedanke daran, auf meinen kalten, unbeheizten Marmorfliesen zu liegen, lässt mich buchstäblich erschaudern.

Henry liegt, ebenfalls nur in seiner dunkelblauen Boxershorts, neben mir und plappert wieder einmal ununterbrochen. Wieder habe ich keine Ahnung, was er mir erzählt, aber ihm scheint es nichts auszumachen. Er scheint das Erzählen so zu lieben wie ich das Zuhören. Und Henry hat immer etwas zu erzählen.
Ich glaube, gerade redet er davon, wie er während des Fluges, als ich schlief, das Hotel im Internet gefunden und gebucht hat. Aber sicher bin ich mir nicht. Ich genieße einfach den Klang seiner weichen Stimme.

Ich weiß nicht, wie lange wir so daliegen und er plappert, während ich ihn - vermutlich dümmlich - anlächele, aber irgendwann knurrt mein Magen so laut, dass auch Henry es hört.
„Hunger?", unterbricht er seinen Redeschwall. Ich nicke, noch immer lächelnd.
„Möchtest du hier im Bad essen oder im Bett?"
„Wir haben keine Küche", stelle ich fest.
„Wir sind auch im Urlaub. Das Hotel hat eine Küche und eine hervorragende Roomservicekarte. Sogar Käse ist darauf", lacht er.
„Ich mag Käse."
„Ich weiß. Mit Makkaroni?"
„Hmmm."

Henry steht auf, verlässt das Badezimmer und ich höre ihn telefonieren. Kurz darauf kommt er zurück und sagt: „Das Essen kommt in etwa zwanzig Minuten. Also, Bad oder Bett?"
Ich drücke mich langsam nach oben und schaue zu ihm auf.
„Bett."
„Ich hatte gehofft, dass du das sagst", seufzt er erleichtert und zieht mich an meiner Hand nach oben.
„Tut mir leid, wenn ich dich überfordert habe", murmelt er und streicht über meine Wange.
„Es war nur sehr.. viel auf einmal."
„Das stimmt. Was hältst du davon, der Clinomanie nachzugeben?"

Ich schüttele lächelnd den Kopf, während ich mir meinen senfgelben Pullover und meine dunkle Jeans wieder anziehe. Gibt es wohl irgendein Wort, das er nicht kennt?
„Der was?"
„Clinomanie. Das Verlangen, den ganzen Tag im Bett zu bleiben", erklärt er. Dann sieht er zurück auf die Fliesen und zieht grübelnd die Augenbrauen zusammen. „Ich weiß leider kein Wort, das das Verlangen, den ganzen Tag im Bad zu bleiben, symbolisiert."
„Bett ist vollkommen fein", lächele ich. „Bleibst du bei mir?"
Überrascht sieht er mich an.
„Natürlich! Wo sollte ich auch hin? Es macht alles nur halb so viel Spaß ohne dich."
„Du hast Spaß mit mir?"
Er lacht.
„Und wie! Ich finde es so spannend, zu beobachten, wie du neue Dinge lernst und erfährst. Dein Gesicht als du die Fußbodenheizung zum ersten Mal gespürt hast, war das Schönste, was ich je gesehen habe."

Ich runzele die Stirn.
„Na gut, das Zweitschönste", gibt er zu. Verwundert schaue ich ihn an und er beantwortet meine stille Frage sofort: „Das Schönste war, als du zum ersten Mal Ekstase verspürt hast."
Er zwinkert mir zu und zieht mich ins Zimmer, ehe ich die Chance habe, zu verarbeiten, was er gerade gesagt hat.

Während wir darauf warten, dass der Roomservice uns das bestellte Essen bringt, zappt Henry durch die unzähligen Fernsehkanäle und ich schreibe. Mein weinrotes Dezemberbuch ist fast voll und als ich zur letzten Seite blättere, steht Henry wortlos auf, geht zu meinem Koffer und holt das neue, noch unbeschriebene Notizbuch heraus. Dieses Mal hat es genau den gleichen Farbton wie das Erste. Ich lächele ihn dankbar an und er küsst liebevoll meine Schläfe.
„Ich hoffe, du erzählst nur Gutes über mich", kichert er und ich tue so, als würde ich überlegen, bevor ich antworte: „Dann muss ich vielleicht einige Passagen nochmal ändern."

Ich war nie jemand, der viel für Humor übrig hatte und diese Seite an mir, die Henry zum Vorschein bringt, ist vollkommen neu für mich. Mit ihm kann ich so unbeschwert sein wie mit niemand anderem, nicht einmal mit mir selbst.
Henry sieht mich mit gespieltem Entsetzen an und holt schon Luft, als es an der Tür klopft und man ein gedämpftes „Roomservice!" hört.

„Darüber sprechen wir noch, Maxwell", kichert er, springt vom Bett und öffnet dem Hotelmitarbeiter die Tür. Dieser kommt mit einem kleinen Wagen auf Rollen, der mit einem weißen Tischtuch bedeckt ist, herein und fragt: „Wohin, Sir?"
„Lassen Sie es gleich vor dem Bett stehen, danke", antwortet Henry, immer noch in seiner dunkelblauen Boxershorts.
Sowohl ihn als auch den Angestellten scheint das nicht im Geringsten zu stören und ich frage mich, was dieser bemitleidenswerte Hotelfachmann wohl in seinem Leben schon alles mitansehen musste, dass ihn Gäste in Unterwäsche nicht einmal verlegen aussehen lassen.

Professionell greift der Angestellte unter das Tischtuch und klappt rechts und links des Wagens zwei Platten nach oben, sodass sich dieser in einen runden Tisch verwandelt. Er hebt zunächst eine der silbernen Glochen auf dem Tisch an und erklärt: „Makkaroni mit Käse." Mein Magen knurrt wie zur Antwort laut, was Henry verschmitzt in meine Richtung zwinkern lässt.
Der Mitarbeiter hebt die zweite Gloche an. „Fischstäbchen mit Pommes Frites."

Mit großen Augen sehe ich Henry an und dieser grinst breit.
„Ich hatte einfach Lust darauf."
Dem
Angestellten sehe ich an, dass auch er sich ein Grinsen verkneifen muss. Er hebt eine dritte Gloche und verkündet: „Ben & Jerry's Cookie Dough."
Henry sieht mich fragend an.
„Magst du Eiscreme?", fragt er zögerlich. Ich schüttele mit ernstem Blick meinen Kopf und sehe aus dem Augenwinkel, wie der Mann vom Roomservice bereits eine Geschichte wittert, die er gleich seinen Kollegen erzählen kann.

„Oh", macht Henry. „Möchtest du etwas anderes zum Nachtisch? Käsekuchen? Brownies?"
„Haben Sie Brownies?", frage ich den interessiert schauenden Mann.
„Ja, Sir. Darf ich Ihnen ein Stück bringen?", bietet dieser höflich an.
„Gern zwei", antworte ich. „Mr. Page weiß offenbar nicht, dass Cookie Dough mit einem Stück warmem Brownie noch viel besser schmeckt."

Der Mann in Hemd und Weste grinst mich an und nickt zustimmend, während Henry laut auflacht und in die Hände klatscht. Er drückt dem Herrn einen Geldschein als Trinkgeld in die Hand und wir stürzen uns wie ausgehungerte Kinder auf unser Essen, nachdem er unser Zimmer verlassen hat.

•••

Erschöpft und satt lasse ich mich auf die unzähligen Kissen zurückfallen und stöhne. Henry liegt grinsend neben mir und fragt: „Was ist los?"
„Sie sind tot", antworte ich trocken und er sieht mich entsetzt an.
„Wer?", fragt er leise.
„Die Kolibris."
„Welche Kolibris?"
„Die in meinem Bauch. Begraben unter einem Berg aus Makkaroni, Käse, Eis und Brownies."
Henry lacht so laut und herzhaft auf, dass ich ebenfalls beginne, unkontrolliert zu kichern, obwohl mir von dem vielen Essen fast schlecht ist.

„Du hast das halbe Fischstäbchen vergessen, das du von meinem Teller stibitzt hast", lacht er, nun schon unter Tränen.
Ich versuche, Luft zu holen, denn auch ich befinde mich in einem hysterischen Lachanfall und bekomme es gerade so hin, hervorzupressen: „Das hat ihnen den Rest gegeben."
Henry rollt sich vor Lachen schreiend auf dem Bett herum und ich halte mir meinen schmerzenden Bauch, während ich verzweifelt nach Luft schnappe und mir die Tränen über mein Gesicht laufen.

Allmählich beruhigen wir uns wieder und Henry wischt sich mit dem Handrücken die Tränen von den Augen. Er sieht mich an und gluckst immer noch leise vor sich hin.
„Du bist unglaublich, Maxwell", lächelt er.
Ich zucke mit den Schultern und spüre, wie meine Wangen sich schon wieder rot färben.
Henry krabbelt langsam über das Bett auf mich zu und murmelt: „Ich denke, wir können sie wiederbeleben."

Allein der Klang seiner Stimme gepaart mit seinem Anblick, tut genau das. Schlagartig schwirrt der riesige Kolibrischwarm durch meinen Bauch und ich bin froh, auf dem Bett zu liegen, da meine Knie sich soeben in Gelee verwandeln.
Erwartungsvoll blicke ich auf Henrys verlockenden Mund, wage es jedoch nicht, mich zu bewegen.

Er beugt sich über mich und ich spüre seinen Atem auf meinem Gesicht, als sein Mund nur noch Millimeter von meinem entfernt ist. Die Kolibris in meinem Inneren rasten vollkommen aus und mein gesamter Körper ist vor Erwartung angespannt. Doch Henry verharrt in dieser Position, seine dunklen braunen Augen, in denen ich die goldenen Flecke nun kaum erkennen kann, bohren sich in meine und er flüstert mit rauer Stimme: „Sag mir, was du willst, Maxwell."

Wortliebe | ✓Where stories live. Discover now