Pilkunnussija

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Nachdem ich wieder zu Atem komme, fällt mir auf, dass Henry mich amüsiert beobachtet.
„Kannst du das öfter machen?", fragt er mich strahlend.
„Was?"
„Lachen, ich liebe das Geräusch."
Meine Wangen werden wieder heiß und ich blättere verlegen in meinem rauchblauen Notizbuch. Schnell versuche ich, die Gedanken und Gefühle, die in meinem Kopf umhersausen, zu fassen und niederzuschreiben.

Henry lehnt sich indessen gemütlich auf der Bank zurück und hat seine Augen geschlossen, als wäre es ein wunderschöner Tag im Juni und nicht kaltes Spätherbstwetter.
„Mbuki-mvuki schreibt man mit mb und mv", sagt er und ich stutze. Tatsächlich habe ich den zweiten Teil des Wortes mit mw geschrieben. Nun ja, dafür, dass ich kein Bantu spreche, war ich gar nicht so schlecht. Ich korrigiere meinen Fehler und Henry spricht weiter: „Bitte entschuldige, ich bin eine richtige Pilkunnussija."

Schon wieder stutze ich und sehe ihn an. Wie viele dieser Worte kennt er wohl?
„Eine Person, die ständig die Grammatik und Rechtschreibung anderer korrigiert", erklärt er ohne aufzusehen. Ich kichere leise.
Henry öffnet ein Auge und grinst mich an. „Da war das Geräusch in klein. Findest du das etwa witzig?"
„Ich bin selbst eine Pilkunnussija. Jenny ist ständig genervt von mir, weil ich mich regelrecht in Rage darüber reden kann, wenn in der Zeitung Tippfehler stehen", erzähle ich.
„Oh, dann hätte sie mit uns beiden sicherlich ihre helle Freude", lacht nun auch Henry.

Nachdem ich fertig mit meinen Notizen bin, fummele ich nervös an den Seiten meines Novemberbuchs herum. Henry hat seine Augen noch immer geschlossen, fragt aber nun: „Was ist los, Maxwell?"
Ich zögere und weiß nicht recht, was ich sagen soll.
Wieder öffnet Henry ein Auge und lächelt mich von der Seite an.
„Möchtest du nochmal?"

Ich zucke mit den Schultern. Natürlich möchte ich nochmal, aber vielleicht hat er es nicht gemocht oder er hat gemerkt, dass ich komplett unerfahren bin und nicht weiß, wie es geht und die Kolibris in meinem Bauch sacken allesamt immer weiter nach unten bei dem Gedanken daran, dass das eben vermutlich mein erster und gleichzeitig letzter Kuss war. Plötzlich bin ich wieder in meinem Gedankenkarussell gefangen und nehme nichts um mich herum mehr wahr. Erst Henrys Hand an meiner holt mich zurück in die Gegenwart.
„Hörst du mir zu, Maxwell?", fragt er mich, seine braunen Augen mustern mich besorgt.

Ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass er mit mir gesprochen hat. Verwirrt sehe ich ihn an. Was, wenn er jetzt geht, weil er merkt, was für ein Freak ich bin? Ich hatte noch keine Gelegenheit ihm zu erklären, dass ich etwas.. seltsam bin.
„Hey", sagt Henry sanft und legt seine Hand an meine Wange. „Ich bin hier, okay? Bitte rede mit mir, Maxwell."
Ich schließe meine Augen und versuche, mich wieder in meinen Ausgangspunkt zurückzuversetzen. Wenn die Übung bei Dr. Cooke funktioniert, geht es vielleicht auch bei Henry.

Er hat mich gefragt, ob ich ihn nochmal küssen möchte. Ich atme tief durch und äußere meine Gedankenfolge nacheinander: „Ja, ich möchte dich gern nochmal küssen. Aber vielleicht hat es dir nicht gefallen. Oder du hast gemerkt, dass ich unerfahren bin. Vermutlich war das gerade mein erster und gleichzeitig letzter Kuss."

„Stop!", geht Henry dazwischen und ich öffne verwirrt meine Augen.
„Was lässt dich denken, es hat mir nicht gefallen?", fragt er und ich zucke mit den Schultern.
„Wenn mir etwas nicht gefällt, sage ich es. Immer. Und das Gleiche erwarte ich von dir, Maxwell", stellt er klar. „Sofort. Ich mache etwas, das dir nicht passt - du sagst es. Andersrum das Gleiche. Kriegen wir das hin?" Ich nicke ergeben. Damit kann ich arbeiten. Sehr gut sogar.
„Aufschreiben?", fragt mich Henry und ich nicke erneut. Er lässt meine Hand los und ich beginne zu schreiben. Mein Novemberbuch ist fast voll, stelle ich fest.

Nachdem ich den Stift wieder in meine Manteltasche gesteckt habe, nimmt Henry meine Hand wieder in seine.
„So, du bist unerfahren."
Wieder nicke ich.
„Das macht mir nicht aus. Ganz im Gegenteil, ich finde es schön und spannend."
Ich runzele verwirrt meine Stirn.
„Was, wenn ich etwas falsch mache?"
Henry lächelt mich an.
„Dann sprechen wir darüber, okay? Außerdem kannst du beim Küssen nicht viel falsch machen. Du machst einfach das, was ich tue. Oder du tust das, worauf du Lust hast, das ist noch besser. Meistens liegst du damit goldrichtig."

Meine Stirn ist noch immer kraus gezogen, denn ich bin nicht sicher, ob ich seinen Anweisungen Folge leisten kann.
„Nochmal probieren?", fragt Henry und ich nicke zögerlich. „Learning by doing, finde ich ja", grinst er und blickt mich erwartungsvoll an.
Ich blicke erwartungsvoll zurück und warte darauf, dass er mir näher kommt. Doch er sitzt nur da und sieht mich an.
„Und jetzt?", frage ich verwirrt.
„Du fängst an."
„Was?"
„Es ist ganz leicht Maxwell", sagt Henry voller Zuversicht. „Du tust das, worauf du Lust hast."
Ich schlucke und wappne mich innerlich. Die Kolibris sind nun eher fette, träge Möwen in meinem Bauch, die jederzeit nach unten klatschen könnten.

Ich nähere mein Gesicht vorsichtig dem von Henry an und betrachte ihn eingehend. Die Haut seiner Wange sieht so glatt und weich aus, dass ich meine Hand zärtlich daran lege und mit meinen Fingern sanft über die weichen Barthaare streiche. Henry schließt genussvoll seine Augen und ich flüstere: „Ist das okay?"
„Mehr als okay, Maxwell", wispert er zurück und fährt sich mit der Zunge über seine Lippen. Ich beobachte sie ganz genau und neige nun meinen Kopf, genauso wie er es getan hat.

Kurz bevor ich sein Gesicht erreiche, schließe ich meine Augen und spüre, wie die fetten Möwen wieder zu klitzekleinen Kolibris in meinem Bauch werden. Henrys Lippen sind warm und weich auf meinen und ich zucke leicht zusammen, als seine Zunge an meine Unterlippe stößt. Unbewusst öffne ich meinen Mund und schnappe nach Luft, als sie feucht und warm in meinen Mund gleitet und dort zaghaft an meine eigene Zunge stößt.

Das Gefühl ist überraschend, aber angenehm und ich lasse seine Zunge langsam meine umkreisen, während meine Hand weiterhin an seiner Wange liegt. Henrys Lippen bewegen sich sanft an meinen, während unsere Zungen sich liebkosen und mir entkommt ein unfreiwilliges Stöhnen, als sich die Kolibris in meinem Bauch zusammenballen und gemeinsam als heißer Ball in meine untere Region schießen.

Urplötzlich ziehe ich meinen Kopf zurück und starre Henrys entsetzt und atemlos an.
„Alles okay, Maxwell?", fragt er mich leise, seine Lippen sind leicht geschwollen.
Ich kneife meine Augen zusammen und atme angestrengt durch die Nase. Der heiße Ball in meinem Schritt pocht dort noch immer und ich versuche, ihn mit meinen Gedanken aufzulösen, doch solange Henry in meiner Nähe ist, will mir das nicht gelingen.

„Hey", flüstert Henry und legt seine Hand auf meinen Oberschenkel. Oh, das ist gar nicht hilfreich.
„Nicht anfassen", murmele ich zwischen zusammengepressten Zähnen. Schnell zieht Henry seine Hand weg und sagt: „Oh!"
Ich schlucke wieder und höre, wie er sagt: „Oh! Ich verstehe."

Wortliebe | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt