Komorebi

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Ein warmer Sonnenstrahl scheint direkt in mein Gesicht und ich blinzele verschlafen. Ich muss meine Gedanken kurz sammeln, denn es ist Dezember und darum sehr ungewöhnlich, dass mich warme Sonnenstrahlen wecken. Mir fällt der gestrige Tag wieder ein und ich stelle fest, dass ich vermutlich noch nie so viel auf einmal erlebt habe wie gestern.

Ich schaue neben mich und erblicke Henry. Seine honiggoldene Haut hebt sich deutlich von der weißen Hotelbettwäsche ab. Er liegt auf dem Bauch, sein schönes Gesicht auf einem der weißen Kissen und er schläft noch immer tief und fest. Seine schwarzen Haare, die sonst immer so kunstvoll nach oben gestylt sind, ähneln plötzlich meinen eigenen, so durcheinander wie sie sind.

Ich betrachte ihn still. Seine schwarzen Wimpern liegen sanft auf seinen Wangen, sein Mund ist leicht geöffnet und seine Schultern heben und senken sich mit seinen langsamen, gleichmäßigen Atemzügen. Vorsichtig stehe ich auf und schleiche ins Badezimmer, um mich zu erleichtern. Die Fliesen sind warm unter meinen Füßen und mir fällt wieder die Fußbodenheizung ein.

Während ich mir die Hände wasche, erinnere ich mich plötzlich daran, dass ich mich noch gar nicht bei meiner Schwester gemeldet habe. Schnell suche ich mein Handy aus meiner Manteltasche und sehe, dass ich bereits mehrere Nachrichten von ihr erhalten habe.

Jennifer Foster

Seid ihr gut
angekommen?
Wie war der Flug?

Max? Ich habe online
gecheckt, das Flugzeug
ist nicht abgestürzt.
Warst du auch drin?

Max?

Max, melde dich!!

Eilig tippe ich eine Antwort.

Liebe Jenny,
bitte entschuldige, ich
habe leider vergessen,
mich zu melden. Ja, ich
war in dem Flugzeug. Ich
bin froh, es hinter mir zu haben.
Hier scheint die Sonne.
Liebe Grüße, Max

Ich lege mein Handy auf den grauen Schreibtisch in unserem Zimmer, ziehe mir meine graue Boxershorts an und gehe zum Fenster. Am
Himmel hängen noch einige Wolken vom gestrigen Regen, doch die Sonnenstrahlen bahnen sich bereits ihren Weg. Am Horizont kann ich einige von ihnen direkt bis auf die Erde scheinen sehen und mir kommt auf einmal das einzige fremdartige Wort in den Sinn, das ich, abgesehen von denen, die ich in den letzten Wochen Henry lernen durfte, kenne.

Komorebi. Genau genommen bedeutet es, dass die Sonnenstrahlen durch das Blätterdach von Bäumen gefiltert werden, aber der Effekt ist derselbe. Ich beschließe, Henry dieses Wort bei Gelegenheit zu präsentieren. Vielleicht kann zur Abwechslung ich einmal ihn überraschen.

Mich überkommt das dringende Bedürfnis, meine Erlebnisse, Gedanken und Gefühle von gestern Abend in mein Dezemberbuch zu schreiben und ich nehme in dem einzigen Sessel in unserem Hotelzimmer Platz. Innerhalb kürzester Zeit bin ich vollkommen versunken in meinen Notizen bis ich Durst bekomme.

Henry hat gestern Abend einfach das Essen bestellt. Vielleicht kann ich das auch? Auf dem Schreibtisch liegt eine große dunkelblaue, lederne Mappe, mit der goldenen Aufschrift ‚Gastinformationen'. Ich blättere darin und finde bald den Hinweis ‚Für unseren Roomservice wählen Sie bitte die 12 auf Ihrem Telefon'. Tatsächlich steht neben der Mappe ein schwarzes Telefon und ich hebe zögerlich den Hörer ab und wähle die angegebene Durchwahl.

„Roomservice, mein Name ist Helen, was darf ich für Sie tun, Mr. Page?", höre ich eine weibliche Stimme am Telefon.
Ich bin kurz etwas verdutzt. Ich heiße nicht Page. Henry heißt Page. Warum weiß sie Henrys Namen? Oh, vermutlich wird ihr das irgendwo angezeigt.
„Oh.. äh.. guten Morgen", stammele ich leise, denn ich möchte den noch immer schlafenden Henry nicht wecken.
„Was darf ich Ihnen bringen, Mr. Page?"
Soll ich sie korrigieren? Ist ihr das eigentlich egal? Wissen die Hotelmitarbeiter überhaupt von mir?
„Äh.. ich.. haben Sie Kaffee?", frage ich statttdessen und entscheide mich für den kurzzeitigen Identitätsraub.

„Natürlich. Latte Macchiato, Cappuccino, Espresso, Milchkaffee, Irish Coffee..", plappert Helen los und mir schwirrt schon jetzt der Kopf.
„Schwarz?", unterbreche ich sie.
„Kaffee schwarz", wiederholt sie und klingt, als würde sie sich meine Bestellung notieren.
„J-ja. Kaffee. Schwarz. Keine Milch. Eine Tüte Zucker. Daneben. Nur eine Tüte. Wenn es keine Tüten gibt, kein Zucker."
„Okay, darf es sonst noch was sein, Mr. Page?"

Ich sehe zum Bett zu Henry und lächele leicht. „Einen großen Latte Macchiato mit zwei Schuss Karamelsirup. Danke."
„Sehr gern, Mr. Page. Der Kaffee wird in etwa zehn Minuten gebracht", beendet Helen das Telefonat.
Ich lege auf und muss ein bisschen grinsen. Ich bin stolz auf mich. Ich habe allein Kaffee bestellt. Hoffentlich freut sich Henry.

Ich setze mich zurück in den Sessel und schreibe meine heutige neue Erfahrung sogleich auf. Wieder bin ich verblüfft darüber, wie sehr ich mich verändert habe, seit ich Henry getroffen habe. Er hat mein Leben bereichert. Ich sehe zu ihm und lächele. Er liegt so friedlich da und ich frage mich, wie es wohl gerade in seinem wirren Kopf aussieht, der voll mit diesen vielen, wunderbaren Worten ist.

Wie war das von gestern? Cafuné. Ich schreibe es schnell auf. Die Finger durch die Haare von jemandem fahren, den man liebt.
Den man liebt? Ich stocke und sehe auf die letzten Zeilen, die ich gerade geschrieben habe. Wollte Henry mir damit sagen, dass er mich liebt? Oder war das nur, weil es eben die Wortbedeutung ist und er den Moment mit mir geliebt hat? Erwartet er von mir, dass ich etwas darauf erwidere? Was soll ich darauf erwidern? Soll ich ihn erst darauf ansprechen?

Ich ertappe mich selbst, wie ich mich wieder in meinem Gedankenkarussell verstricke und atme tief ein und aus. Henry soll mich nicht auf dem Badezimmerboden vorfinden, wenn er aufwacht. Das ist nicht richtig. Ich möchte, dass es ihm gut geht. Dass er glücklich ist und so viel lacht und plappert, wie es geht. Ist das Liebe? Ich habe noch nie jemanden geliebt. Ich weiß es nicht. Sicherlich liebe ich meine Schwester und meine Eltern, aber ich verstehe, dass das eine andere Art von Liebe ist.

Ein leises Klopfen an der Tür mit den Worten „Roomservice" reißt mich aus meinen Gedanken. Schnell tapse ich zur Tür und bemerke erst, als ich sie öffne, dass ich ja nur meine graue Boxershorts trage. Augenblicklich wird mein Gesicht heiß und ich versuche, mich hinter der Tür zu verstecken.
Im Gang steht ein junges, blondes Mädchen mit einem schwarzen Tablett. Vermutlich Helen vom Telefon. Zumindest lässt ihr Namensschild das vermuten, denn darauf steht ‚Helen, Auszubildende'.

„Guten Morgen, Mr. Page. Ein Latte Macchiato mit zwei Schuss Karamelsirup und ein schwarzer Kaffee mit einer Tüte Zucker", begrüßt sie mich freundlich. Ich sehe an ihren Augen, dass sie sich bemüht, nicht auf meinen nackten Oberkörper zu starren.
„D-Danke", flüstere ich und will ihr das Tablett abnehmen, aber kann die Tür nicht loslassen, da diese sonst zuschlägt.
Helen scheint ein schlaues Köpfchen zu sein, denn sie lässt mit einer Hand das Tablett los, um die Tür zu halten, damit ich es ihr abnehmen kann. Sie lächelt freundlich.
„Danke", wiederhole ich und nehme das Tablett aus ihrer Hand.
„Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Mr. Page", flötet sie und ich nicke, mein Gesicht noch immer warm, als sich die Tür von allein schließt.

Ich stelle unseren Kaffee auf dem Schreibtisch ab und krabbele neben Henry auf das Bett. Ein Blick auf meine Uhr verrät, dass es schon nach zehn ist.
Ich streiche sanft durch sein wuscheliges Haar und denke dabei ‚Cafuné'.
„Guten Morgen", flüstere ich und er regt sich langsam. Verschlafen blinzelt er mich an und ich lächele.
„Hi", sage ich und muss wieder stolz grinsen. „Ich habe uns Kaffee bestellt", kündige ich an.
Henry dreht seinen Kopf auf die andere Seite und murmelt mürrisch: „Ich will keinen Kaffee."

Wortliebe | ✓Onde histórias criam vida. Descubra agora