Awumbuk

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Ich öffne meine Augen und starre an meine Zimmerdecke. Sie ist weiß. Einfach nur weiß und glatt. Irgendjemand hat mich angezogen und in mein Bett gelegt. Es ist mir egal. Mir ist alles egal. Ich möchte nur an die Decke starren. Ich fühle mich irgendwie gedämpft. Das Brennen in meiner Brust ist noch da, aber es schnürt mir nicht mehr die Luft ab.

Nicht so wie vorher. Bevor ich offenbar eingeschlafen bin. Ich erinnere mich vage daran, dass ich geweint habe. Ich konnte nichts dagegen tun und es wollte nicht aufhören. Ich war so unendlich traurig. Jetzt bin ich auch traurig, aber ich kann nicht weinen. Die Traurigkeit ist auch gedämpft. Als wäre ich mit Watte ausgestopft und alle meine Gefühle und Empfindungen sind noch da, aber einzeln in diese Watte verpackt, damit sie mich nicht von innen zerreißen.

Ich sehe braune Augen über mir. Keine goldenen Flecken und bei dem Gedanken an die goldenen Flecken regt sich eins der Wattebündel in mir und sticht doch ein wenig. Ich erkenne Dr. Cooke, der mich besorgt mustert.
„Hallo, Max", sagt er freundlich. Ich habe keine Lust ihm zu antworten. Es ist mir egal.
„Ich habe dir ein Sedativum gegeben, darum fühlst du dich vermutlich etwas benebelt."
Eher bewattet, denke ich, aber ich schweige.
„Möchtest du mir erzählen, was vorgefallen ist?"
Ich schüttele den Kopf. Nein, ich möchte nicht erzählen. Ich möchte nicht sprechen.
Ich möchte meine glatte, weiße Decke anstarren.

„Wie lange hält die Wirkung an?", höre ich die Stimme meiner Schwester. Arme Jennifer. Ich möchte ihr keine Sorgen bereiten, aber mir ist gerade alles egal.
„Vermutlich noch die Nacht über", erklärt Dr. Cooke. „Bringen Sie ihn morgen bei mir vorbei?"
Ich sehe Jennifer aus dem Augenwinkel nicken und wundere mich. Ich habe morgen keine Sitzung. Aber es ist mir auch egal. Ich habe morgen auch keine anderen Termine. Ich habe nie Termine.

„Ich bleibe bei ihm", sagt Jennifer und sieht besorgt zu mir herunter. Mir ist es egal, ob sie bleibt. Sie kann auch gehen, dann kann ich meine Decke in Ruhe anstarren.

Irgendwann öffne ich meine Augen wieder und die Watte ist dünner. Es ist dunkel und ich spüre einen Körper neben mir. Für einen winzigen Moment leuchtet ein kleines Licht in meiner Brust, weil ich denke, es ist Henry, doch dann stelle ich fest, dass der Körper zu klein ist. Es ist meine Schwester, die neben mir schläft.
Das Licht in mir erlischt schlagartig wieder und stattdessen kehrt das Brennen zurück. Ich schnappe nach Luft und stehe leise auf. Ich will Jennifer nicht wecken, sie sorgt sich schon genug um mich.

Ich gehe in meine Küche und trinke ein großes Glas Wasser, doch das Brennen will sich nicht abkühlen lassen. Es ist wie ein Feuerball, der meine Eingeweide zu erdrücken scheint. Ich stelle das Glas ab und kann nicht verhindern, dass ich wieder an Henry denke. Und je mehr ich an Henry denke, umso stärker wird der heiße Druck in mir. Leise gehe ich in mein Badezimmer und ziehe mich wieder aus. Die Fliesen sind kühl auf meiner Haut, doch sie erreichen den Feuerball nicht.

„Max", weckt mich Jennifers Stimme. „Max, bitte. Du machst mir Angst."
Ich öffne meine Augen und sehe sie an. Ihre schwarzen Haare sind völlig durcheinander und unter ihren hübschen braunen Augen, die keine goldenen Flecken haben, sind dunkle Schatten.
„Wir fahren zu Dr. Cooke", sagt sie entschlossen als ich sie ansehe.
„Ich möchte lieber hier bleiben", sage ich schwach und streiche mit meiner Hand über die kalten Fliesen.
„Max, ich kann dir nicht helfen", wimmert meine Schwester verzweifelt. „Bitte, komm mit."

Ich drehe meinen Kopf zur anderen Seite und hoffe, dass sie geht. Ich weiß, dass sie mir nicht helfen kann. Niemand kann das.
Irgendwann steht sie auf und geht aus dem Badezimmer. Ich höre sie im Wohnzimmer telefonieren und nehme an, dass sie mit Dr. Cooke spricht. Vielleicht stopft er mich wieder mit Watte aus. Dann brennt es nicht so stark.

Als ich das nächste Mal die Augen öffne, blicke ich wieder in braune Augen. Sie haben goldene Flecken und ich muss unwillkürlich lächeln. Das Brennen wird unfassbar stark, das wundert mich. Ich frage mich, was Dr. Cooke mir dieses Mal gegeben hat. Keine Watte, aber dafür bilde ich mir ein, Henry neben mir auf den kalten Fliesen liegen zu sehen. Vielleicht hat Dr. Cooke auch etwas, das mich mit Watte ausstopft und mich gleichzeitig Henry sehen lässt. Das wäre schön, denn dann würde es sich fast so anfühlen, als wäre Henry noch da.

„Hey", sagt der imaginäre Henry kaum hörbar. Eine kleine Träne läuft aus meinem Augenwinkel. Ich kann kaum noch atmen, der Feuerball zerdrückt meine Lunge, aber dennoch freue ich mich, dass die Halluzination mit mir spricht. Ich traue mich nicht zu sprechen, aus Angst, dass er wie eine Blase zerplatzt oder sich wie eine Wolke einfach auflöst. Also begnüge ich mich damit, ihn anzusehen.

Er sieht müde aus. Und traurig. Seine schönen Augen sind leicht gerötet und darunter sehe ich Schatten. Mein armer Henry, warum ist er so müde? Ich bin auch traurig und und wenn ich ihn so sehe, hoffe ich, dass der wirkliche Henry gerade singend und tanzend vor seiner Leinwand steht und irgendein Bild malt, das als Titel ein mir unbekanntes Wort trägt. Ich mag nicht, wenn er traurig ist.
Der imaginäre Henry streckt seine Hand aus und streicht mit seinem Finger vorsichtig über meine Hand, die neben meinem Gesicht auf den Fliesen liegt.

Seine Berührung weckt mich buchstäblich auf, denn mir wird mit dem gesteigerten Druck und dem unerträglichen Brennen in meiner Brust urplötzlich klar, dass ich ihn mir nicht einbilde. Er ist hier. Ich liege halbnackt auf meinen kalten Fliesen und er ist hier. Wegen mir. Er sieht wegen mir so müde aus. Es ist meine Schuld.

Ich ziehe meine Hand weg und kneife meine Augen zusammen. Ich will atmen, doch es geht nicht. Meine Lunge wird von dem Feuerball zusammengepresst und ich kann nicht atmen. Alles, was ich kann, ist daran denken, dass ich Schuld daran bin, dass es Henry nicht gut geht. Er ist ein fröhlicher, glücklicher Mensch und jetzt liegt er neben mir und sieht mich durch müde, traurige Augen an. Ich höre ein gequältes Stöhnen und stelle mit Entsetzen fest, dass ich dieses Geräusch erzeuge.

„Maxwell", sagt Henry ruhig und streicht mit seiner Hand durch mein Haar. Mein ganzer Körper zittert unter seiner Berührung. Ich genieße es so sehr, doch andererseits möchte ich, dass er geht. Ich möchte, dass er wieder lacht und in Pfützen und Laubhaufen springt und Dinge tut, die er tun will. Er soll nicht neben mir liegen und mich so sehen, denn das kann er unmöglich wollen.

„Können wir reden?", fragt er leise. Ich kann nicht antworten, ich kann nicht mal atmen. Doch seine Finger streichen sanft durch meine Strähnen und ich gebe mich verzweifelt der Illusion hin, dass er es gern tut. Meine Haare streicheln. Der Gedanke beruhigt mich und der Druck in meiner Brust lässt gerade so viel nach, dass ich flach atmen kann. Das Brennen ist noch da, aber solange ich meine Augen geschlossen halte, kann ich zumindest atmen.

„Wie wäre es, wenn ich rede und du hörst zu?"
Ich kann noch immer nicht sprechen, aber ich mag seine Stimme. Und ich weiß, dass Henry gern redet. Also nicke ich kaum merklich und höre, wie er laut ausatmet. Es klingt fast erleichtert.

Auf einmal verschwindet seine Hand aus meinen Haaren und ich höre wie die Badezimmertür geschlossen wird. Er ist gegangen. Der Druck in mir breitet sich in Windeseile von meiner Brust zu meinem Bauch und meinem restlichen Körper aus. Ich spüre heiße Tränen in meinen Augen und ich zittere unkontrolliert. Ich will ihm nachlaufen und ihm sagen, dass er doch reden wollte, doch ich bin wie gelähmt.

Durch die Tür höre ich gedämpft die Stimmen von meiner Schwester und Dr. Cooke und kurz darauf öffnet sich die Tür wieder.
Ein Seufzen ist zu hören und dann ist Henrys Hand plötzlich wieder in meinen Haaren. Was ist passiert? Ich dachte, er ist gegangen.

„Ich hab ein weiteres Wort für dich, Maxwell", sagt Henry leise. „Awumbuk, das ist Baining für das Gefühl der Leere und Erleichterung, wenn Gäste gegangen sind. So geht es mir gerade. Ich hoffe, es ist okay, dass ich deine Schwester und diesen Mann weggeschickt habe."

Vorsichtig öffne ich meine Augen und da liegt er. Direkt vor mir, seine weiche Wange auf meinen kalten Fliesen. Seine braunen Augen sind immer noch gerötet, aber sie funkeln mich freundlich an und er flüstert: „Meinst du, wir können doch beide reden? Ich vermisse deine Stimme."

Wortliebe | ✓Where stories live. Discover now