Kilig

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„K-Könntest du mir mein Novemberbuch geben?", flüstere ich leise, ohne den Blick von Henry abzuwenden. Überrascht öffnet er seine Augen und ich stelle fest, dass sie plötzlich viel dunkler als sonst wirken. Seine Wangen färben sich leicht pink und er lächelt verlegen, als er sich räuspert.
„Na klar", antwortet er und schiebt mir mein rauchblaues Notizbuch über die beigefarbenen Fliesen zu.

Als ich ihn weiter ansehe, scheint ihm etwas einzufallen und er steht ein wenig schwerfällig auf. Während er zu meinem Mantel geht und in dessen Tasche nach meinem Stift sucht, kann ich meinen Blick nicht von der Beule in seinem Schritt abwenden. Er kommt zurück und rollt mir auch den Stift über die Fliesen.
„Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht überfordern", murmelt er verlegen, als ihm auffällt, dass ich ihn noch immer anstarre.
Ich nicke und schlucke trocken, während ich mich langsam aufsetze und die aktuelle Seite in meinem Buch aufschlage.

„Darf ich mir was zu Trinken holen?", fragt Henry leise. Ich nicke wieder, während ich eifrig in mein Buch schreibe. Nebenbei höre ich, wie er in der Küche Schränke öffnet und schließt, dann das Laufen des Wasserhahns. Henry kommt zurück und hat neben seinem Glas mit klarem Leitungswasser auch noch meine graue Fleecedecke, die immer über der Lehne meines Sofas hängt, dabei. Fragend hebe ich meine Augenbrauen.

„Damit du dir keinen Schnupfen holst", lächelt er und legt die Decke um meine Schultern, peinlich genau darauf achtend, dass er mich nicht berührt.
Oh, richtig. Ich sitze noch immer nur in meiner Boxershorts auf dem Badezimmerfußboden.
„Danke", flüstere ich kaum hörbar und merke, dass die Schmetterlinge wieder zurück sind. Warum? Er will mich doch gar nicht küssen. Und mir ist nicht entgangen, dass die Beule in seinem Schritt nicht länger sichtbar ist.

„Soll ich gehen?", fragt er mich nun und ich sehe erschrocken auf. Ich will nicht, dass er geht. Die Schmetterlinge verklumpen zu einem heißen Brocken, der sich in meiner Brust festsetzt. Der Brocken brennt und hindert mich fast am Atmen.
„Bitte nicht", presse ich mühevoll hervor.
Henry lächelt mich an und nickt.
„Okay, dann bleibe ich."

So schnell wie der Klumpen entstanden ist, verwandelt er sich wieder zurück in die Schmetterlinge. Merkwürdig. Was ist das?
„Woran denkst du?", fragt Henry mich und ich schaue ihn fragend an. „Du siehst verwirrt aus und ich frage mich, was in deinem hübschen Kopf vorgeht, Maxwell."
In dem Moment, wo er meinen Kopf hübsch nennt, fliegen die Schmetterlinge alle gemeinsam nach oben und stoßen fast an meinen Hals. Erschrocken fasse ich mir an die Stelle.

Henry lächelt.
„Kilig?", fragt er und ich runzele die Stirn.
„Was?"
„Kilig", wiederholt er. „Philippinisch für romantische Aufregung oder eben Schmetterlinge im Bauch."
Meine Augen werden groß und ich starre ihn an. „Woher.."
„Ich das weiß?", lacht Henry nun. „Maxwell, mir geht es die ganze Zeit so, wenn ich dich ansehe. Besonders, wenn du lächelst. Dann kribbelt es. Am meisten hier", erklärt er und legt seine Hand auf seinen Bauch.

Ich schlucke und schreibe eifrig in mein Buch. Henry scheint geduldig abzuwarten und lächelt, als ich fertig bin.
„Geht's dir besser?", fragt er nun und ich stelle fest, dass es mir wirklich besser geht und ich mich gern wieder anziehen würde. Als könnte er meine Gedanken lesen, bringt er mir ungefragt meine Sachen aus dem Flur, wo ich sie über einen Stuhl gelegt hatte.

Henry ist so höflich und beschäftigt sich mit dem Zusammenlegen meiner Fleecedecke, während ich mich anziehe und sitzt strahlend auf meinem schwarzen Sofa, als ich ins Wohnzimmer komme.
„Ich wollte dir eigentlich noch etwas geben, aber du bist vorhin so schnell gegangen", erzählt er und zieht das weiße Blatt Papier aus seiner Hosentasche.
Es ist etwas zerknickt und noch warm, als ich es entgegennehme.

Vorsichtig falte ich es auseinander und sehe, dass er handschriftlich einen Steckbrief verfasst hat.

Steckbrief

Name: Henry Page
Geburtstag: 08. Dezember
Alter: 24
Geboren in: Phoenix, Arizona
Beruf: Künstler
Lieblingsfarbe: violett
Lieblingstier: Katze
Lieblingsessen: ich probiere gern alles
Davon kann ich nicht genug bekommen: schöne Worte, Ideen
Das mag ich: Lachen, schöne Dinge, Neues
Das mag ich nicht: Unehrlichkeit, Langeweile
Lebensmotto: Sag niemals nein zu einem Abenteuer.

Verblüfft sehe ich ihn an.
„Ich hatte doch gesagt, wir sollten Steckbriefe machen", kichert er. Ich falte das Blatt ordentlich zusammen und lege es in die Seite in meinem Notizbuch.
„Du kannst mir deinen auch ein anderes Mal geben, Maxwell", bietet er an.

Ein anderes Mal? Er möchte mich wiedersehen? Ich nicke vorsichtig, denn ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll. Ich weiß, dass ich ihn sehr gern wiedersehen möchte, aber der heutige Tag hat mich vollkommen verwirrt.
„Es war alles ein bisschen viel heute, oder?", fragt Henry und wieder nicke ich. Warum versteht er mich so gut, ohne dass ich etwas sage?
Henry lacht wieder sein Lachen und streicht liebevoll über meine Hand, die neben mir auf der Sitzfläche meines schwarzen Ledersofas ruht.

„Pass auf, Maxwell. Ich gehe jetzt und du rufst deine Schwester an", schlägt er vor und wieder spüre ich den heißen Brocken in meiner Brust. „Und wenn du magst, sehen wir uns morgen auf der Bank im Park. Ich komme etwas später. Wenn du nicht möchtest, dass ich mich zu dir setze, dann hebst du nur kurz deine Hand und ich verschwinde, okay?"
„Ich will nicht, dass du verschwindest", sage ich schnell.
Henrys braune Augen glitzern mich freudig an und sein Mund lächelt.
„Okay, das freut mich. Aber solltest du es dir anders überlegen, heb deine Hand. Verstanden?"
Ich nicke ergeben.

Langsam steht Henry auf, geht in den Flur und zieht sich dort Mantel und Schuhe an. Ich folge ihm still und beobachte ihn dabei. Er bindet sich erst den rechten und dann den linken Schuh.
„Dann vielleicht bis morgen, Maxwell", lächelt Henry mich an, nimmt meine Hand und verbeugt sich elegant vor mir, bevor er durch meine Wohnungstür verschwindet.
Ich stehe da und starre die Tür an. Er hat mich nicht nochmal geküsst. Der heiße Brocken ist noch da.

Nach gefühlten Ewigkeiten greife ich mein Telefon und wähle die Nummer von Jennifer. Sie hebt beim ersten Klingeln ab.
„Max, was ist los?", ruft sie in den Hörer.
„Kannst du herkommen?", frage ich und höre, wie die Verbindung unterbrochen wird.

Meine Schwester ist auf dem Weg.

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