19

462 72 129
                                    

Keine Ahnung wie lange ich am nächsten Tag einfach nur auf meiner Fensterbank saß und hinausstarrte. Ich tat das oft. Stundenlang sogar.

Ich war aufgestanden, hatte mich fertig gemacht, warum und wofür auch immer, hatte mir einen Kaffee eingeschenkt und mich dann einfach auf die Fensterbank gesetzt.

Dann saß ich da. Vollkommen geräusch- und bewegungslos. Meine Kaffeetasse stand bis zum Rand gefüllt auf der Küchentheke und war mittlerweile eiskalt und ich merkte noch nicht einmal, das meine Wangen ganz nass waren.

Ich hatte geweint aber die Tränen waren einfach nur so über meine Wangen gelaufen, ohne dass ich es gemerkt hatte.

Ich beobachtete die Leute, die unten auf der Straße vorbeiliefen und fragte mich dann immerzu was sie wohl für ein Leben führten. Ob sie glücklich waren. Oder ob es etwas gab, dass sie ebenfalls traurig machte oder ob irgendjemand von ihnen irgendeine Last auf seinen Schultern trug. Ich fragte mich wohin sie gingen und woher sie kamen. Was ihr Ziel war und ob sie überhaupt eines verfolgten.

Ich selbst hatte einst ein Ziel aber ich hatte es vor langer Zeit aufgegeben, weil es keinen Sinn machte. Eigentlich hatte nichts was ich tat irgendeinen Sinn. Ich würde ohnehin sterben. Vielleicht schon bald, wenn alles gut ging. Ansonsten erst später aber irgendwann wäre es soweit und dann wäre doch eh alles, was ich jemals in meinem Leben getan hatte, vollkommen bedeutungslos.

Kurz leckte ich mir über meine Lippen, die ganz salzig schmeckten und ich wischte mir mit meinem Ärmel über meine laufende Nase.

Nach einiger Zeit setzte ich mich in Bewegung, um das Badezimmer aufzusuchen und, wenn ich schon mal da war, wollte ich gleich einige meiner stimmungsaufhellenden Tabletten einwerfen, die aber ehrlich gesagt nicht wirklich viel nützten. Vielleicht handelte es sich dabei nur um irgendwelche Placebos und mein Arzt führte sadistische Experimente mit mir durch. Bei dem Gedanken dachte ich direkt wieder an Euthanasia.

Als ich das Badezimmer verließ fiel mein Blick sofort auf meinen PC und ich verspürte großen Drang danach zu sehen, ob Yoongi mir geschrieben hatte. Mir fiel auf, dass ich ihn nie nach seiner Nummer gefragt hatte. Vielleicht würde ich für ihn sogar mein Handy wieder einschalten.

Kaum hatte ich mich in Bewegung gesetzt, klingelte es an meiner Tür. Aus Gewohnheit blieb ich wie angewurzelt stehen und hielt sofort die Luft an. Wieso konnte man mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich wollte mich einfach nur wieder tot stellen, als es dann auch noch an meiner Tür klopfte.

Dann klingelte es erneut und ziemlich energisch hämmerte es dann wieder an der Tür, bis ich aufgab und genervt die Tür aufriss. Yoongi stand mit erhobener Hand vor mir und wollte gerade wieder klopfen, als wir uns großen Augen ansahen.

"Oh Gott, ich dachte schon es wäre was passiert", meinte er und betrat einfach so meine Wohnung. Ich schnaubte kurz, schüttelte den Kopf und schloss die Tür. Er legte gerade einen schwarzen zerfledderten Rucksack neben meiner Couch ab und lief dann in die Küche, um sich etwas zu trinken zu nehmen.

Ich stützte mich auf der Küchentheke ab und sah ihm zu. Es schien für ihn vollkommen normal zu sein, einfach uneingeladen hierher zukommen und sich an meiner Küche zu bedienen. Er trank gerade einen Schluck Orangensaft, als er meinen Blick bemerkte. "Auch was?", fragte er und hob sein Glas ein wenig an. 

Ich befeuchtete meine Lippen und holte tief Luft. Ich sah ihn einfach nur schweigend an und er kam auf mich zu. Er stellte sein Glas ab und berührte meine Wange. Das passierte so plötzlich und so unerwartet, dass ich fast zusammenzuckte.

"Du hast geweint", bemerkte er und ich richtete mich auf, sodass seine Hand von meiner Wange glitt. "Ich bin depressiv, ich darf weinen wann ich will", gab ich zurück und wischte mir über meine immer noch nassen Wangen.

"Ich finde, wenn man traurig ist... dann sollte man weinen dürfen. Egal ob man nun depressiv ist oder nicht", sagte Yoongi und ich vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Plötzlich lief er um die Küchentheke herum und kam langsam auf mich zu.

Ich schlang sofort meine Arme um mich selbst, als würde ich mich vor etwas schützen wollen. Kurz sah ich ihn an und senkte dann sofort erschrocken meinen Blick.

Bis er unmittelbar vor mir stand. Ich starrte auf sein Shirt und seine Nähe verstörte mich abermals so sehr. Ich konnte nur hoffen, dass er mich nicht berühren würde. Nicht noch einmal.

"Ich hab' dir was mitgebracht", sagte er leise und ich sah nun doch zu ihm auf. Seine Augen wirkten irgendwie traurig in diesem Moment, doch bevor ich ihn näher betrachten konnte, lief er zu seinem Rucksack und kam damit wieder zu mir zurück.

Ich lehnte meine Hüfte gegen die Theke hinter mir und sah ihm mit mittlerweile verschränkten Armen an. Als er in seinem Rucksack gekramt und gefunden hatte, wonach er suchte, warf er diesen achtlos auf den Boden. Er stand wieder direkt vor mir und hielt mir einen kleinen verschlossenen Plastikbeutel mit Zipverschluss entgegen.

Zögernd nahm ich diesen entgegen und betrachtete das weiße Pulver darin. "Sind das Drogen!?", wollte ich wissen und ich spürte, dass mein Unterkiefer langsam nach unten klappte. Ich weiß nicht, warum ich mich erst über seine Worte gefreut hatte und warum ich nun enttäuscht war, jetzt wo ich sah, was er mir da mitgebracht hatte.

"Das ist Natriumnitrit", antwortete Yoongi knapp.

"Oh...", sagte ich nur und obwohl mein Blick auf den Beutel gerichtet war, fixierte ich ihn gar nicht mehr wirklich, sondern sah irgendwie durch ihn hindurch. "Und was genau bewirkt das...", fragte ich weiter und wirkte fast teilnahmslos.

"Es blockiert den Sauerstofftransport im Blut. 4 Gramm davon sind für einen erwachsenen Menschen tödlich", erwiderte Yoongi und lief zu einem meiner Küchenregale. Mein Blick war immer noch auf den Beutel gerichtet und ich war mir nicht sicher, was ich gerade fühlte, doch Yoongi fuhr fort: "Es sind schon Leute an 2 Gramm gestorben. Allerdings wollen wir ja auf Nummer sicher gehen, nicht wahr?"

Dann stand er plötzlich wieder vor mir und hielt mir ein Glas Wasser entgegen: "Deshalb ist es wohl am besten, du nimmst gleich den ganzen Beutel."

Can you hold me? ---YoonminWo Geschichten leben. Entdecke jetzt