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Ich ließ mich von Yoongi aus meiner Wohnung führen. Seine Hand hielt immer noch die meine und ich musste zugeben, dass es sich sehr schön anfühlte.

Es hatte seit Ewigkeiten niemand mehr meine Hand gehalten. Ich ließ es um ehrlich zu sein schon lange nicht mehr zu, dass mich überhaupt irgendjemand irgendwie berührte. 

Als wir im Treppenhaus angekommen waren, lief Yoongi nicht wie erwartet, nach unten zur Haustür, sondern er ging mit mir gemeinsam die Treppen hinauf, bis ganz nach oben. Dort öffnete er die Tür, die zum Dach meines Wohnhauses führte.

Er ließ meine Hand los und schloss die Tür hinter uns. In der Zeit verschränkte ich fest meine Arme vor meiner Brust und sah mich um. Es war eine warme Sommernacht und im Moment vollkommen windstill.

Dann sah ich Yoongi, der sich neben mich stellte und mich von der Seite ansah. "Komm", sagte er und streckte mir wie selbstverständlich seine Hand entgegen. Meine Augen wanderten langsam von seiner ausgesteckten Hand zu seinen Augen und er lächelte leicht.

Etwas zögerlich legte ich meine Hand in die seine und er lief mit mir weiter auf das Dach. Wir blieben an der hüfthohen Mauer stehen und sahen gemeinsam hinab auf die Straße, auf der nur noch wenige Autos und Menschen unterwegs waren. Doch meine Höhenangst sorgte dafür, dass ich diesem Ausblick nicht weiter standhalten konnte und so wich ich einige Schritte zurück.

Als Yoongi das bemerkte, konnte ich erneut aus dem Augenwinkel erkennen, dass er mich ansah. "Los, setzen wir uns", sagte er daraufhin und wir nahmen genau dort wo wir standen Platz. Ich beobachtete Yoongi dabei, wie er die Weinflasche öffnete und der Korken mit einem leisen Ploppen herausfuhr.

Gleich darauf schenkte er uns etwas ein und hielt mir mein Glas entgegen. Schweigend stießen wir an und ich nahm einen Schluck. Der Wein war wirklich ausgezeichnet. Er hatte schon lange in meinem Schrank gestanden, da ich ihn für eine besondere Gelegenheit hatte aufbewahren wollen. Nun ja, vielleicht war diese nun gekommen.

"Sagst du mir, wie du dich gerade fühlst?", durchbrach Yoongi irgendwann die Stille und ich nahm noch einen großen Schluck. 

"Ich habe Angst. Ich habe immerzu Angst und ich fühle mich hoffnungslos", fing ich an, doch ich schüttelte genervt von mir selbst den Kopf und trank mein Glas leer. "Ich muss in deinen Augen solch ein erbärmlicher depressiver Schwächling sein", fuhr ich fort und mir stiegen aufgrund meiner eigenen Worte, die Tränen in die Augen, weil es die Wahrheit war.

"Nein, du kommst mir nicht schwach vor. Eigentlich ist deine Depression doch das genaue Gegenteil. Ich denke sie zeigt eher, wie stark du im Grunde genommen bist, dass du schon so lange nicht aufgegeben hast", sagte Yoongi und schenkte uns beiden nach.

Ich lächelte schwach, während ich in mein Glas sah. "Jeder Tag ist ein weiterer Kampf. Und jeder meiner Atemzüge und jeder Herzschlag, sind wie ein Krieg", sagte ich und schloss die Augen, bevor ich leise fortfuhr, "ich bin nicht mehr in der Lage diesen Krieg zu gewinnen... ich bin... zu schwach."

"Manche Schlachten müssen nicht alleine geschlagen werden", erwiderte Yoongi und ich schaute verdutzt in seine Richtung. "Hey, du sagtest du würdest mir helfen", sagte ich vorwurfsvoll.

"Ja, das sagte ich", entgegnete Yoongi und richtete seinen Blick geradeaus. Doch ich sah ihn immer noch an. Ich hoffte, dass er nicht einfach nur jemand war, der mir diese Sache ausreden wollte, denn sein Gerede deutete eigentlich darauf hin.

Wieso fragte er mich immerzu wie es mir ging? Es war doch egal, wie es mir ging. Alles was zählte war, dass ich sterben wollte und dann sowieso nicht mehr da war. Und dann kam mir eine wichtige Frage in den Sinn.

"Wie vielen Leuten hast du eigentlich schon geholfen Selbstmord zu begehen?", wollte ich wissen und sah ihn gespannt an. "Niemandem", antwortete er und ich hatte es schon vermutet. "Ein Debütant also..", sagte ich leise und wandte meinen Blick von ihm ab, nur um meinen Wein hinunterzustürzen und mir die Weinflasche zu schnappen.

"Bist du das etwa nicht? Wie oft bist du denn schon gestorben?", fragte er.

"Jede Nacht", sagte ich leise, "jeden Abend, wenn ich die Augen schließe, sterbe ich. Und am nächsten Morgen, wenn ich sie wieder öffne... sterbe ich noch einmal."

Ein wenig gedankenverloren blickte ich eine Zeit lang auf die Weinflasche in meiner Hand. Dann schenkte ich mir ein und auch Yoongi hielt mir sein Glas entgegen, dass ich gleich darauf füllte.

"Gab es denn Momente in deinem Leben, in denen du glücklich warst?", fragte Yoongi und ich sah mit einem leichten Lächeln in den Sternenhimmel. "Die gab es natürlich. Aber das ist schon eine Weile her", antwortete ich.

"Überwiegen diese Momente denn nicht?", fragte Yoongi weiter. "Es ist unwichtig, ob diese Momente überwiegen. Es zählt einfach nur, wie es mir jetzt geht", entgegnete ich und konnte sehen, dass Yoongi mich ansah.

"Diese Momente sind... unwichtig?", hakte Yoongi nach und ich ließ den Kopf sinken.

Ich spürte wie Tränen in mir aufstiegen und es war nicht gut, wenn ich traurig und gleichzeitig betrunken war. Das Letzte was ich wollte war, Yoongi die Ohren vollzuheulen mit meinen Problemen.

Wir schwiegen eine Weile. Aber das war gar nicht schlimm. Ich genoss die Stille der Nacht und auch Yoongis Anwesenheit empfand ich als angenehm, obwohl ich es seit langem bevorzugte allein zu sein und niemanden sehen zu müssen.

"Gibt es etwas, was du wirklich gern tust, Jaden? Etwas, was dich einst glücklich gemacht hat?", durchbrach Yoongi irgendwann die Stille. Ich musste nicht lange überlegen.

Es gab vieles, das mich einst glücklich gemacht hatte, doch ich erwähnte nur eins: "Das Tanzen. Das hat mich immer sehr glücklich gemacht."

"Würdest du für mich tanzen?", sagte Yoongi auf einmal und ich sah ihn entgeistert an. Das konnte er jetzt nicht ernst meinen. Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich schon betrunken genug dafür war.

"Schwierig ohne Musik", entgegnete ich und hoffte damit noch einmal davongekommen zu sein.

"Du traust dich nicht", bemerkte Yoongi und schmunzelte. Etwas empört sah ich ihn an, doch er stand auf und hielt mir seine Hand entgegen.

"Darf ich bitten?", fragte er und ich sah ihn mit großen Augen an. 

Can you hold me? ---YoonminWo Geschichten leben. Entdecke jetzt