Kapitel 20

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HINTER DEM grauen Plattenbau stapelte sich noch mehr Sperrmüll, als davor. Ich hatte Mühe Jeff durch das hohe Gras zu folgen, denn in der Dämmerung konnte man nur schwer erkennen wo man hintrat.
Der Mörder steuerte ein Autowrack an, das nahezu in der Mitte der Schrotttwüste duckte. Es musste schon eine sehr lange Zeit hier liegen, denn der Lack war mittlerweile so stark abgeblättert, dass man nicht mal mehr hätte erraten können, was für eine Farbe der Wagen früher mal besessen haben musste. 

Jeff schwang sich unbeirrt auf die zerbeulte Motorhaube. Dort zündete er sich dann im Schneidersitz eine Zigarette an und blickte anschließend aus kalten Augen auffordernd zu mir herab. Ich wischte mir die Hände an der Jeans ab, bevor ich mich zu ihm hinauf zog. Die kalte, verrostete Fläche bot gerade so viel Platz, dass unsere Körper sich nicht zwangsläufig berühren mussten. 

Schweigend bot er mir die Kippenpackung an und lehnte sich dann nach hinten. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Windschutzscheibe hinter uns zersplittert war.
Jeff langte durch die Scherben und tastete im Fußraum der Fahrerseite herum. Schließlich kam ein Sixpack Dosenbier zum Vorschein, das er mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck direkt zwischen uns platzierte. 

Der Mörder war auf dem Rückweg sehr still gewesen. Ich hatte gespürt, dass er furchtbar schlechte Laune hatte, aber etwas an seiner Haltung hatte mich davon abgehalten ihn darauf anzusprechen. 

Beim Anblick des Alkohols erhellte sich seine finstere Miene jetzt jedoch und er machte sich ohne Umschweife daran, die graue Packungsfolie abzuziehen.
Es zischte, als seine schlanken Finger den ersten Dosenverschluss öffneten. Es schien das einzige Geräusch in der gesamten Umgebung zu sein. Während ich den gerollten Tabak anzündete, beobachtete ich verstohlen, wie Jeff die Flüssigkeit geradewegs großzügig in seine Kehle schüttete. 

Er trank und rauchte so viel. Wann hatte er damit wohl angefangen? 

Es war eine von vielen Fragen, die ich ihm stellen wollte. 

Stattdessen war er es, der jetzt plötzlich das Wort an mich richtete. "Wieso hat dich das mit dem Unfall so getroffen?" Seine Worte waren hart und unsere Blicke trafen sich nur kurz, als ich perplex mein Gesicht zu ihm wandte.
Ohne drüber nachzudenken, griff ich ebenfalls zu einer Dose. Jeffs Mund zuckte spöttisch, aber er sparte sich den verächtlichen Kommentar, der ihm gerade mit Sicherheit durch den Kopf gegangen sein musste. Ich trank und starrte auf meine Schuhspitzen. Es brauchte mich eine gefühlte Ewigkeit den Satz über die Lippen zu bringen. 

"Mein Vater ist bei einem Unfall gestorben." Meine Stimme klang merkwürdig belegt, obwohl bei diesen Worten ein Sturm in mir losbrach. 

Ich hielt den Kopf gesenkt, versuchte mich, mit dem blauen Vorhang meiner Haare von dem Jungen neben mir abzuschirmen. Ich hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen und den vergangenen Horror jetzt erneut an die Oberfläche zu ziehen war so viel schmerzhafter, als erwartet.
Erstaunlicherweise drängte mich Jeff nicht zum Fortfahren, doch ich spürte seine eisigen Blicke auf mir, so intensiv, als würde er mich mit ihnen berühren. Zittrig holte ich Luft.
"Meine Mum ist mit dem Verlust nicht gut umgegangen. Sie hat sich einige Wochen danach selbst versucht das Leben zu nehmen. Ich habe sie in der Küche mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden, als ich von der Schule nach Hause kam."
Ich wusste nicht, woher ich die Kraft nahm, all diese Dinge laut auszusprechen. Jedes Wort stach und schmerzte tief in meiner Brust und mit einem Mal war der Drang auf irgendwas einzuschlagen, irgendwas kaputt zu machen, so groß, dass es mir den Atem nahm.
Jeff schwieg immer noch.
Nach einer endlosen Zeit wagte ich schließlich zu ihm aufzublicken. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und betrachtete den bewölkten Himmel über uns. "Das muss ziemlich scheiße für dich gewesen sein.", murmelte er und kniff die Augen zusammen. 

Es waren wenige Worte, aber es waren Worte, die ich gebraucht hatte. Ich war in meiner Trauer bisher immer allein gewesen. Damals, gestern, womöglich würde ich es morgen wieder sein. Und es grenzte an Ironie, dass ausgerechnet jemand wie Jeff das verstehen konnte. Ich schlang die Arme um meine Knie. "Schätze schon.", murmelte ich und kämpfte gegen das plötzliche Brennen in meinen Augen an. 

Jeffs Berührung war so leicht, dass ich sie erst nicht wahrnahm. Vorsichtig strich er mir über den Kopf, so zurückhaltend, als könne ich unter seinen weißen Händen zerbrechen. Doch gerade diese Zärtlichkeit ließ die letzten Dämme in mir brechen und die Tränen begannen zu laufen. Bevor ich mein Gesicht jedoch hinter meinen Händen verbergen konnte, hatte mich der Mörder schon in eine Umarmung gezogen, aus der ich mich, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht hätte befreien können.
In mir tobte der Terror – Verwirrung, Trauer, Angst und Enttäuschung. Es waren laute Emotionen, die sich zusammen mit meinen Tränen gewaltsam an die Oberfläche drängten und mir ein gequältes Wimmern nach dem anderen entlockten. Jeff strich mir immer noch über das Haar, als er mit einem Mal anfing zu sprechen. 

"Das am Telefon war mein Bruder. Liu. Er wollte wissen, wie es mir geht und was ich gerade mache. Der ganze banale Familienscheiß eben." Er sah zu mir herab. 

Ich war mir nicht sicher, was ich dort in seinen Augen sah. Im Vordergrund stand zwar vernichtende Geringschätzung, doch ich glaubte dahinter einen tiefschwarzen Schleier aus Bedauern und Schmerz zu erkennen. 

"Liu war schon immer zu gutherzig und naiv. Und in dieser Gutherzigkeit hat er mich allein gelassen. Und das auch noch in dem Glauben mir damit einen Gefallen zu tun." Der Spott troff bei den Worten aus seiner Stimme wie schwarzer Teer.
Es war ein Bruchteil seines vergangenen Lebens, den er mir gerade offenbarte und dennoch hatte die Verbitterung seine Stimme schon fast gänzlich zerfressen. 

Seine Schultern sackten in hilfloser Resignation nach unten. "Es wäre besser für ihn, er würde mich vergessen.", sagte er dann leise und schüttelte den Kopf.
Es tat weh, ihn so zu sehen und doch kostete es mich einiges an Überwindung meine Gedanken laut auszusprechen. 

"Ich möchte dich nicht vergessen." 

Die Stille die daraufhin folgte, zog sich entsetzlich lang. Schließlich rang sich Jeff eine Antwort ab. "Du meinst das ernst, oder?" Darüber musste ich nicht lange nachdenken. 
"Ja."
Ein Zittern durchzog seinen Körper, als er leise anfing zu lachen. Und obwohl es von Kummer und Verzweiflung ganz entfremdet war, war es echt.
"Dann bist du wirklich genauso wahnsinnig, wie er.", flüsterte er, was mir ebenfalls ein schwaches Grinsen entlockte. 

Ich vergrub mich tiefer in seiner Umarmung. 

Ich wusste, dass das mit uns beiden keine Zukunft hatte, wusste, wie gefährlich er war, wusste, dass er mich irgendwann umbringen würde. Aber das war okay.
Denn ich wusste auch, dass ich diese Entscheidung trotz allem nie bereuen würde.

Another story about this killer called Jeff (Jeff the killer FF)Where stories live. Discover now