Kapitel 22

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SEITDEM ICH nach drei Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, waren einige Wochen vergangen. 

Mir wurden bei meiner Entlassung keinerlei Informationen gegeben – ich erhielt lediglich meine Klamotten und meinen Rucksack zurück, den meine Flucht doch etwas mitgenommen hatte. Ein Riemen war gerissen und der vordere Reißverschluss klemmte. Doch wenigstens befand sich noch meine schwarze Brieftasche darin.
Mit dem Geld hatte ich mir ein Taxi bezahlt. Der Fahrer hatte irritiert die Stirn gerunzelt, als ich ihn mit müder Stimme bat, einfach irgendwohin zu fahren – alles nur weg von hier. 

Und so ließ ich die Stadt endgültig hinter mir. 

Die schmutzigen Straßen, den dunklen Asphalt und die graue Schule, meine Mutter... und die Erinnerungen an Jeff.
Ich wusste nicht einmal, wie der Ort, in dem ich jetzt seit ein paar Monaten lebte, hieß. Doch ich hatte schnell Arbeit gefunden – es gab sie hier im Überfluss und die Menschen fragten und interessierten sich nicht.
Ich hatte mich bei einer Tankstelle, die etwas abseits lag, beworben und wurde noch am selben Tag angenommen – das nannte sich dann wohl Ironie des Schicksals.
Die Arbeit war eintönig und die meisten Nächte verstrichen ereignislos. Was hatte ich auch erwartet? Meistens verirrten sich zu dieser Uhrzeit lediglich schlecht gelaunte Trucker und Taxifahrer, die mir ihre Dollarscheine regelrecht ins Gesicht pfefferten und die Tanke nur mit Unmengen an Tabak und Alkohol verließen.
Mich störte das nicht weiter. Ich war es gewohnt, dass Menschen unhöflich zu mir waren oder dass sie mich ignorierten. Besonders meine Mutter war mir eine gute Lehrerin gewesen, die hässlichen Seiten der Welt einfach kommentarlos hinzunehmen. Wahrscheinlich sogar die Beste. 

Ich hatte mich nicht mehr bei ihr gemeldet und mein Handy hatte ich damals in der Wohnung zurück gelassen. An manchen Tagen hatte ich noch mit dem Gedanken gespielt, sie doch anzurufen, aber als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, eines der mitgenommenen Münztelefone aufzusuchen, musste ich mir schließlich die bittere Wahrheit eingestehen: Die Nummer war meinem Gedächtnis entfallen. Und auch ihr ermattetes Gesicht verblasste mit jedem weiteren Tag ein Stückchen mehr. 

Nur langsam wurde mir bewusst, dass mir jeglicher Antrieb abhanden gekommen war. Mittlerweile stand ich oft an Brückengeländern und Zuggleisen. Teilweise stundenlang trug mein Innerstes dann erbitterte Kämpfe mit sich aus.
Aber das Leben hatte meinen dunkelsten Gedanken bislang immer einen Trumpf entgegenzusetzen gehabt, den sie noch nicht auszuspielen vermochten. 

"Bleib am Leben." 

Seine Forderung war eindeutig, sie war grausam und trotzdem hielt ich weiterhin an ihr fest, ohne wirklich zu wissen warum. 

In meiner Haftzeit, hatte man mir einen Psychiater vorgesetzt, der mich jedoch lediglich mit einer Tonne Diagnosen statt Antworten zurück gelassen hatte und dem ich die Abgründe meiner Seele wahrscheinlich auch nicht nach hundert Sitzungen hätte anvertrauen können.* 

Eigentlich war Jeff der einzige Mensch gewesen, gegenüber dem ich mich geöffnet hatte. Dabei wusste ich so gut wie gar nichts über diesen Jungen, der stets lächelte und doch gleichzeitig zu weinen schien und dem jetzt schon unzählige Schatten folgten. 

Je länger und kühler die Nächte wurden, desto schwerer fiel es mir aufzustehen, zu atmen und mich an meinen Namen zu erinnern. Genauso schwer fiel es mir dann später einzuschlafen. Denn mit der Kälte kam die Einsamkeit.
Inzwischen hatten nahezu alle Bäume ihre Blätter verloren und buntes Laub bedeckte die Gehsteige. Normalerweise knisterte und knackte es unter den hektischen Schritten der Fußgänger, doch als ich mich an diesem Abend auf den Weg zur Arbeit machte, regnete es in Strömen. Ich war in Eile gewesen und hatte meinen Regenschirm in der Wohnung vergessen. Schon nach wenigen Minuten tropfte mir das Wasser kalt von den Haarspitzen in die Stirn. Im Stechschritt lief ich die Straße hinunter. 

Zuerst hielt ich ihn für eine Illusion.

Genau wie damals saß er am Straßenrand auf der Bordsteinkante, die Kapuze tief in sein Gesicht gezogen.
Wie oft hatte ich versucht mir dieses Bild wieder ins Gedächtnis zu rufen? Jedes Mal war es mir entglitten und hatte mich stattdessen mit einer unerträglichen Leere und Hoffnungslosigkeit zurückgelassen.
Und jetzt saß er dort, direkt vor mir, unverkennbar und genauso wie an diesem einen Tag, der sich unwiderruflich in mein Herz gebrannt hatte. Als uns nur noch wenige Meter trennten, blieb ich stehen. Der Regen prasselte auf mich hinab. Mehrere Autos fuhren an uns vorbei, ihre Scheinwerfer strichen über den glitzernden Asphalt der nassen Straße und doch fühlte es es sich so an, als ob die Welt um mich herum den Atem angehalten hätte. 

Als er schließlich nach Sekunden, die sich nach der Ewigkeit anfühlten, das Gesicht zu mir wandte, war es mir, als würde eine Last von mir abfallen, von der ich bisher nicht gewusst hatte, sie auf meinen Schultern getragen zu haben.
Seine Augen waren klirrend kalt, sie durchbohrten mich genau wie bei unserer ersten Begegnung und all den weiteren, die daraufhin folgen sollten. Doch sein Ausdruck war schon fast sanft, als er schließlich aufstand und die letzte Distanz zwischen uns mit wenigen Schritten überbrückte. 

Er wusste, dass ich wusste, dass es für uns beide keine Zukunft geben würde. Es hatte sie nie gegeben. Doch jetzt, für den einen Moment, wollte ich es mir erlauben, mich dieser verbotenen Illusion hinzugeben.
Nur für einen kurzen Augenblick. Zitternd griff ich nach seiner Hand. Unsere kalten Finger verschränkten sich in einem stummen Versprechen miteinander. 

Wie hätte es auch anders mit uns enden sollen, wenn nicht genau so?

THE END

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*Anmerkung: Dies ist nur ein fiktiv geschilderter Fall, und kein allgemeines Statement zur Sinnvollität einer therapeutischen Behandlung. In vielen Fällen sind Therapien sehr ratsam. Folgende Faktoren sind essentiell für einen erfolgreichen Therapieverlauf: Den/die richtige Therapeut/in* für sich zu finden, sowie selber bereit für diese Hilfe zu sein.  

Another story about this killer called Jeff (Jeff the killer FF)Où les histoires vivent. Découvrez maintenant