Kapitel 22: Kassadya

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Schon seit Stunden saß ich auf der breiten Fensterbank der riesigen Bibliothek und starrte in den Sonnenaufgang.
Aber die rot orange farbenen Strahlen, die die Gärten des Anwesens in einen fast magischen Schimmer tauchten, nahm ich kaum wahr.

Das einzige, was meine Gedanken im Griff hatte war sie. Schon wieder. In letzter Zeit war ich so oft an sie erinnert worden und jetzt... Ich schloss die Lider und ließ das steinerne Gesicht der Statue wieder vor meinem inneren Auge auftauchen.

Der kühle Stein unter meiner Hand, ihr Gesichtsausdruck. Ich spürte etwas Nasses auf meiner Wange und öffnete die Augen wieder, aber ich machte mir nicht die Mühe, meine Tränen weg zu wischen.

Wie sollte ich Ray bloß dazu bringen, sie mir zu geben? Schuld und Schmerz schnürten mir die Brust zu.

Wie konnte das ganze nach so vielen Jahrhunderten noch so weh tun? Ich lehnte meinen Kopf an die kühle Scheibe, während ich mir vorstellte, sie säße neben mir.

Sonnenaufgänge hatte sie immer geliebt und dieser hier war besonders schön. Viel zu schön um zu weinen, jedenfalls hätte sie das gesagt. Unwillkürlich schlich sich ein trauriges Lächeln auf mein Gesicht.

Ich hatte immer die Sonnenuntergänge mehr gemocht. Sie hatten viel kräftigere Farben und oft sah man auch schon vereinzelt die ersten Sterne am Himmel.

Wie oft wir uns darüber gestritten hatten, ob Sonnenauf oder -untergänge schöner waren. Wie gern ich genau jetzt mit ihr darüber streiten würde. Ein Seufzen entfuhr mir. Auch, wenn ich nicht wusste, wie, ich musste sie retten, das stand fest. Koste es was es wolle.

In diesem Augenblick  störte etwas diesen perfekten Moment. Erst konnte ich nicht sagen, was es war. Ein Vogel? Nein, der würde mich nicht stören. Aber was war es dann?
Etwas flog immer näher auf das Anwesen zu.

Dann wurde es mir mit einem Schlag klar. Engel. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und fluchte laut auf.

"Bitte Kassadya, das ist eine Bibliothek. Wenn du schon hier schlafen musst, dann tu das bitte leise", erklärte Raymonds pseudo freundliche Stimme plötzlich hinter mir. Unter anderen Umständen  hätte ich jetzt darauf hingewiesen, das er mir kein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte und es dementsprechend nicht verwunderlich war, wenn ich in der Biblothek schlief, aber jetzt ließ ich auch sein plötzliches Auftauchen unkommentiert und sagte stattdessen nur ein Wort.

"Engel"

Ray runzelte die Stirn und blickte aus dem Fenster. Sein Blick verfinsterte sich schlagartig.

"Was wollen diese Scheusale hier?!", murmelte er verärgert und machte sich schnell auf den Weg, raus aus der Bibliothek. Ich folgte ihm.

"Lori", beantwortete ich seine rethorische Frage. Er ignorierte mich.

"Henry!", rief er einen blonden, jungen Dämon zu sich, der gerade dabei war, im Esszimmer zu verschwinden.

"Versteck Lori, die Engel sind hier", befahl er. Der Dämon nickte schnell, änderte seine Richtung und eilte eine Treppe hinauf.

"Das wird nichts bringen. Wenn sie sich schon die Mühe machen herzukommen, wissen sie, dass sie hier ist und werden ohne sie nicht wieder gehen", erlärte ich.

"Ich weiß", gab er gepresst zurück und betrat nun das Esszimmer. Ich trat hinter ihm durch die Tür.

Der Raum dahinter war groß, wenn nicht schon riesig. Der Boden bestand aus glänzendem Parkett und die Wände waren mit hellem Holz vertäfelt. Zwei riesige Kronleuchter funkelten im Licht der Morgensonne. Der große Holztisch in der Mitte war gedeckt und an der Seite stand ein großzügiges Frühstücksbuffet. Es wirkte fast, wie der Früstucksaal in einem Fünfsterne-Hotel.

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