Teil 43- Lilie

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Erneut schob ich die Brille zurecht, immer wieder rutschte sie mir von der Nase. Warum tat ich mir das eigentlich an? Resigniert zog ich sie ab und warf sie nach hinten auf den Rücksitz, wo sie gegen meine Tasche krachte und schließlich scheppernd im Fußraum zum Liegen kam. Mich kannte hier niemand, ich musste mich nicht verkleiden. Keine Maskerade spielen, so tun als sei ich jemand anderes. Die Menschen, die mich hier einst gekannt haben waren Allesamt nicht mehr am Leben, seit Jahrzehnten, Jahrhunderten nicht mehr an den Orten, die wir damals zusammen aufgesucht hatten. Alles, was von ihnen blieb, war die flüchtige Erinnerung an die Momente, die wir einst miteinander geteilt hatten. Und für sie war ich immer nur jemand gewesen, der wenige bedeutungslose Jahre in ihrem Leben gewesen war. Verschwunden, ohne eine Erklärung. Abschiede waren trotz all der Zeit niemals zu etwas geworden, das ich als eine normale Situation bezeichnen würde. Doch was war schon normal? Ich ging einfach. Sparte mir die Erklärung, Entschuldigungen, leere Worte gefüllt mit Lügen. Und jetzt gerade wollte ich wieder einfach gehen. Alles hinter mir lassen. Verschwinden.
Ein Klopfen an der Scheibe des Autos riss mich aus meinen Gedanken. Der Mann neben meiner Autoscheibe signalisierte mir das Fenster runterzulassen. Die Uniform die er trug und die an seinem Düren Körper schlackerte, wies ihn als Sicherheitsmann des Florence Krankenhauses aus. Dem Ort der ab heute eigentlich mein Arbeitsort sein sollte. Der Ort der mich vor mir selbst ablenken sollte.
„Sie dürfen hier nicht Parken. Der Besucherparkplatz ist auf der anderen Seite des Gebäudes." Seine krächzende Stimme passte nicht zu seinem jungen Aussehen.
Mit einer geübten Bewegung fischte ich den Ausweis aus meiner Tasche hinter mir und hielt ihn ihm entgegen. „Ich habe leider noch keinen Parkausweis, heute ist mein erster Tag."
„Oh verzeihen Sie. Es ist nur, der Schichtwechsel ist erst in zwei Stunden, deswegen, ja. Also jedenfalls willkommen im Florence Nightingalet Klinikum Frau", er schaute auf den Ausweis und wieder zu mir. „Jefferson."
Ich nahm ihm den Ausweis dankend ab und schloss mich wieder in dem Auto ein, nicht bereit schon hereinzugehen. Es war mir selbst ein Rätsel, warum ich bereits zwei Stunden zu früh hierhin gefahren war. Es war wie mit meinem Namen. Ich hatte ihn nie geändert, Mira. Wer kannte mich schon? Mira Jefferson. Ein Name, der nichts sagt, mir nichts bedeutet hatte. Den ich nicht ablegen konnte, nicht wollte. Hoffte das sie ihn irgendwann suchen würde. Hielt an dem Bild fest, das ich damals von mir geschaffen hatte. Die Frau, die ich im Grunde nicht war, nie gewesen bin. Die wilde Seele, die ich damals vorspielte. Unkontrollierbar, frei. Hielt an den Haaren fest, die sie als wunderschön betitelt hatte. Mit einer fast schon versteinerten Hand hielt ich an all dem fest, krallte mich an die Erinnerungen an sie, an Eloise. Für sie wollte ich die Person sein, die sie einst geliebt hatte, nicht das Monster das ich war. Die leere Hülle zu der ich geworden bin.

„Sie sind aber ein wenig zu früh dran, Doktor Ramara ist noch nicht da." Die Frau mit der spitzen Nase klickte auf dem Bildschirm hin und her und schaute mich mit kleinen, wässrigen Augen aus dem Glaskasten an, der den gesamten Empfangstresen einrahmte. „Hier", sie schob einen grauen Umschlag durch den kleinen Spalt des Glaskastens. „ID Karte, Spindschlüssel und ihr Namensschild befinden sich darin. Gehen Sie ruhig in den Aufenthaltsraum, Doktor Ramara wird sie dort dann abholen."
Auf mein Danke bekam ich nur ein Nicken und schon verdunkelte sie wieder die Glasscheibe, um sich vor meinen Blick abzuschirmen.
Der Aufenthaltsraum glich denen, die ich schon während des Studiums, beider Studien, gesehen hatte. Sofa, Tische, Kühlschrank, Kaffe- und Teemaschine, lieblose Bilder und eine Ansammlung aus verschiedenen Pflanzen. Auf der linken Seite wurde der Raum durch die Tür zum Umkleideraum abgeschlossen. Trotz der ganzen Fortschritte hatte man sich nie die Mühe gemacht eine andere Lösung zu finden, die hässliche blaue Spinde, an den Wänden und quer im Raum zu ersetzen. Gerüche schienen sich ebenfalls mit den Jahren nicht zu ändern. Stickige Luft, gemischt mit den verschiedensten Deodorants und Parfüms, immer von einer leichten, doch durchaus präsenten Note aus Schweiß und Moschus schlug mir beim Eintreten in den Raum entgegen und ließ mich kurz innehalten. Warum tat ich das alles?
Im hinteren Teil des kleinen, fensterlosen Raums fand ich den winzigen Spind und zog mich um. Der Spiegel reflektierte mein müdes ich, müde von meinem eigenen Dasein. Den Ring, den ich seit jeher an meinem Ringfinger trug, hatte schon lange seinen Glanz verloren. Seufzend streifte ich ihn ab und legte in oben auf den Haufen an Sachen, die ich in den Spind gestopft hatte.
„Hallo ich bin Mira, schön Sie kennenzulernen." Die Rolle, die ich spielte, beherrschte ich meisterhaft. Ein freundliches Lächeln, ein fester Händedruck. Sie würden es glauben. Leere Augen starrten mich an. Meine leeren Augen. „Hallo, ich bin Mira." Wiederholte ich meine Worte. „Alles an mir ist eine Lüge. Schön Sie kennenzulernen."

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