Teil 44- Rosen

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Der Wind war eisig, unaufhörlich peitschte er gegen die Bäume, die sich schwer unter der Last jeder einzelnen Böe bogen. Oben auf dem Dach war es am besten spürbar. Laut zog sich das Metall der kleinen Terrasse zusammen, schwankte wie die Bäume, kaum überhörbar, deutlich spürbar. Seitdem ich hier war, seit Wochen, hatte es keinen Tag mehr gegeben, an dem das Wetter anders, besser, gewesen war.
Sie stand ruhig da. Viel zu ruhig. Der Wind schien ihr nichts auszumachen, prallte regelrecht an ihr ab. Lediglich ihre Haare wippten in einem gleichmäßigen Rhythmus hin und her. Die einst so wilden schwarzen Locken waren verschwunden. Sie trug sie jetzt glatt, zu glatt als das sie natürlich aussehen würden. Sie waren perfekt, streng in einem Zopf im Nacken zusammengebunden. Keine Strähne hatte sich daraus gelöst. Ihr Kittel war das einzige das dem Wind keinen Widerstand zu bieten schien. Wie Flügel hob er sich an beiden Seiten ihres Körpers. Ich erkannte sie nicht, erkannte nichts an ihr wieder. Sie war kein Mensch, kein Mensch mehr. Alles auch nur ansatzweise Menschliche war verschwunden. Ihre Art, ihre Haltung, selbst ihr Aussehen. Eloise lehnte sich nicht an das Geländer, so wie Menschen es wahrscheinlich gemacht hätten. Sie stand lediglich davor, gerade, die Hände vor der Brust verschränkt. Und auch wenn ich wusste, dass ich hätte verschwinden sollen, stand ich hier. Starrte sie an. Mein Herz wurde schwer, so unfassbar schwer. Im Operationsraum hatte ich es beherrschen können, hatte sie versucht auszublendenden, immer kurz davor einfach das Bewusstsein zu verlieren. Nichts hatte sie sich mehr anmerken lassen. Routiniert hatte sie die Operation beendet.
„Ich sehe Sie auf dem Dach, wenn Sie fertig sind." Hatte sie mir mit fester Stimme zugerufen, bevor sie aus dem OP gestürmt war.
Die Schwestern verzogen das Gesicht. „Oh man, das gibt Ärger."
Ich fragte nicht wieso, fragte nicht, woher sie es wussten. Anscheinend war es ihre Art. Etwas an ihr das mich nicht verwunderte, nicht mehr. Eloise gab es hier nicht mehr.

„Was sollte das?" Eloise drehte sich nicht zu mir um, dennoch bemerkte sie meine Anwesenheit. Wie eine Fremde sprach sie zu mir. Doch war ich nicht genau das? Eine Fremde?
Es machte mich wütend, wahnsinnig, dass sie so war. Auch, wenn ich wusste das sie nicht anders konnte. Doch es ärgerte mich, ließ mich innerlich toben. Wieso hatte sie nach ihrer Vergangenheit gesucht? Warum hatte sie nie nach mir gesucht? Warum war sie nie an den Punkt gekommen, an dem sie sich gefragt hat, wieso sie auf einmal die war, die sie war? Warum? Ich wusste das Er ihr alles genommen hatte, was mit mir zusammenhing, doch wieso nahm sie es hin? Warum hatte sie mich nie geliebt? Ich spürte diese Wut in mir, diese Wut die stärker war als die Leere, die mich seit dem Moment umgab als sie gegangen war. Es war unerklärlich. Unausweichlich.
„Was meinen Sie?" Und dennoch klang ich nicht danach. Meine eigene Stimme war mir fremd, fast so fremd wie Eloise.
„Wollen wir das Spiel wirklich weiterspielen?" Ihre Worte vermischten sich mit dem Wind, wurden zu Peitschenhieben die mir gegen mein Gesicht schlugen.
„Ich weiß nicht, was Sie meinen."
Eloise ließ ihre Arme sinken und drehte sich um. Ihr Gesicht war eine Maske, keine Regung spiegelte sich in ihren Augen wider, die ruhig an mir vorbeischauten, als würde sie es meiden mich anzusehen. „Doch das wissen Sie. Wer sind Sie?"
Eine einfache Frage. Zum ersten Mal gestand ich es mir ein. Es war nie passiert, nicht für sie. Dieses Gefühl ... Die Erkenntnis. Mit einem Schlag. Als hätte mir meine Erinnerung einen Streich gespielt, als hätte alles das, was ich so fest in mir verschlossen hatte, nie stattgefunden. Die hundert Tode, die ich gestorben war in den letzten Jahren, waren kein Vergleich zudem was ich jetzt fühlte. Er hatte recht gehabt; Sie hatte mich nie geliebt.
„Wollen Sie mir nicht antworten?"
Fragte Sie mich das gerade wirklich? Was hatte ich noch zu sagen? „Mira Jefferson."
Sie nickte, drehte mir wieder den Rücken zu. „Nun Mira, das habe ich bereits verstanden. Wer sind Sie Mira? Warum haben Sie mich so genannt?"
„Wie?" Presste ich hervor, jede Regung schmerzte, jede Bewegung.
„Eloise." Antwortete Sie ruhig, fast als wäre es normal das sie jemand so ansprach. „Also?"
War sollte ich darauf sagen? Leugnen war sinnlos, sie würde mir nicht glauben. Ich drehte mich um. Ich würde gehen, einfach gehen. Keiner von uns müsste sich dem hier stellen. Mein Vater hatte gewonnen, endgültig. Vielleicht würde er mich jetzt erlösen? Mich zu sich holen. Noch bevor ich die Metalltür erreicht hatte, stand sie vor der Tür. Die Arme wieder vor der Brust verschränkt, stand sie da, kaum einen Meter von mir entfernt. Ihr Geruch schlug mir entgegen, legte sich um mich. Nahm mich ein, so wie er es immer tat.
„Ich erwarte eine Antwort." Noch immer zeigte Eloise Stimme keine Regung. Lediglich ihre Augenbrauen hatte sie hochgezogen.
Nun gut, dann würde ich halt so flüchten. Flucht. Wie feige ich doch war. Ein feiges Monster. Der Gedanke brachte mich zum Lachen. Bitter verließ es meinen Mund, es klang wieder nicht nach mir. Doch wer war ich schon? Vielleicht war das alles nur eine Lüge? War ich es nicht auch?
Eine Kurzschlussreaktion, das trifft es ganz gut. Anders lässt es sich nicht erklären. Ich schaute sie an. Noch immer vermied sie es mich anzuschauen. War ich ihr so zu wieder? Mit der nächsten Böe rannte ich los, rannte so schnell ich konnte. Sicher, sie war schnell, doch ich war schneller, ich musste schneller sein. Es waren wenige Sekunden, hätte man uns gesehen, wären wir nur kurze Blitze gewesen, zu schnell für das menschliche Auge. Ich war schon immer schnell, schneller als alle anderen. Nur noch das Geländer, dann konnte ich verschwinden. Konnte Flüchten. Oft hatte ich meine Gegner gejagt, jetzt jagte ich mich selbst. Mit einer Hand auf dem Gelände setzte ich bereits zum Sprung an, wir waren in der zwölften Etage, keine Höhe die mich auch nur Blinzeln ließ. Doch statt dem erwarten Flug nach unten, prallte ich gegen die harte Betonwand. Hart schlug mein Körper gegen die graue Wand, die mich wie ein Messer aufzuspießen schien. Doch es war nicht die Wand, die sich in meine Arme bohrte, es waren Eloise Hände, die meine Arme zu den Seiten verbogen und an die Wand pressten. Schmerzhaft verbog sie sie, immer fester. Zum ersten Mal seit 70 Jahren spürte ich einen anderen Schmerz, einen echten Schmerz, der nicht von meinem Inneren kam. Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen sie, erstaunt über meine Kraft ließ sie kurz meine Arme los. Sie brannten, jedoch nicht vor Schmerz. Ihre Berührungen waren wie Feuer, Flammen die sich in meine Haut brannten. Eloise fing sich schnell wieder und griff wieder nach meinen Armen. Sie war zwar schnell, doch ich konnte mich los winden. Es war die letzte Chance zu fliehen. Ich sprang auf die Bank neben dem Geländer und von da aus auf das Metallgeländer.
„Was soll der Mist?" Rief sie wütend. „Bleib gefälligst hier Mira!"
Mira. Sie sprach ihn aus, meine Namen. Als würde etwas in mir zerspringen ließ es mich innehalten. Mit einem einzigen Wort, brachte sie mich dazu stehenzubleiben. Wie in Zeitlupe zog sie mich wieder vom Geländer. Wieder schlug ich harte auf, diesmal auf den Boden. Gefolgt von einem zweiten Aufprall, als Eloise sich auf mich setzte. Wieso machte sie das?
„Runter." Ich versuchte sie runter zuschlagen, doch Eloise griff wieder nach meinen Armen. Sämtliche Kraft war augenblicklich aus mir gewichen. Nichts war mehr übrig um gegen sie anzukämpfen. Ihre Hände legten sich um meine Handgelenke, schmerzhaft, zu fest. Wieder bog sie sie in eine unnatürliche Position über meinem Kopf. Es zwang sie sich über mich zu beugen. Sie war nah, zu nah. Ich spürte jede Regung in ihrem Körper, jeden noch so kleinen Muskel der sich an ihrem Körper rührte. Spürte ihre Wärme, die Hitze die von ihr Ausging. Hörte ihr Herz. Roch sie.
„Runter." Schrie ich, verzweifelt. „Runter!"
Doch sie rührte sich nicht, drückte stattdessen meine Arme fester gegen den Boden. Es knackte, bald würden meine Knochen brechen, doch es kümmerte sie nicht. Kalt schaute sie auf mich herab. „Erst will ich eine Antwort."
Wild schlug ich meinen Kopf hin und her, ich konnte es nicht kontrollieren. Niemals würde ich sie jetzt ansehen, das konnte ich nicht.
„Runter." Schrie ich wieder.
Eloise lachte. „Antworte mir!" Befahl sie.
Sie war mir so fremd, dennoch war die Berührung so vertraut. Ich brannte, verbrannte unter ihr.
„Runter, Bitte. Ich halte das nicht aus." Flehte ich jetzt. „Runter Eloise, Bitte, ich halte es nicht aus." Es war nicht mehr als ein flehendes Flüstern, meine Stimme brach. Es hatte keinen Sinn mehr. Doch es änderte etwas. Ihr Griff wurde fester, jedoch lockerte er sich ganz plötzlich wieder. Und zum ersten Mal schaute sie mich an. Starrte zuerst auf unsere Hände. Ihre Augen zuckten. Gott, ich hielt es nicht mehr aus. Ein ersticktes Schluchzen verließ meinen Mund, so voller Schmerz, dass es sie zusammenfahren ließ. Ich Gesicht schoss zu meinem. Sie sagte kein Wort, rührte sich nicht mehr. Wieder war da dieses unkontrolliertes Schluchzen. Selbst jetzt war sie wunderschön. Sie war vollkommen. Ich kapitulierte, gab auf. Endgültig. Sollte sie machen, was sie wollte. Vielleicht würde sie mich töten? Was war der Tod schon im Vergleich zu dem, was ich jetzt spürte? War es nicht einfach eine Erlösung? Eine Strähne hatte sich aus ihrem perfekten Zopf gelöst und kitzelte jetzt an meiner Nasenspitze. Ich wollte sie wegschieben, doch sie hatte meine Handgelenke noch immer mit ihren Händen umschlossen. Wie in einem Film spielte sich alles wieder ab. Dieser Traum, dieser eine unaufhörliche Traum, den ich jede Nacht träumte.
„Bitte."
Eloise beugte sich zurück, ihr Blick wanderte zu meinem Brustkorb, der sich unkontrolliert hob und senkte. Immer weiter glitten ihre Augen herauf, und sie zuckte zusammen. Ich hörte ihren Herzschlag, schneller als zuvor, als sich unsere Augen treffen. Das ganze Universum schien sich in ihnen zu spiegeln. Wie hunderte Sterne die gleichzeitig explodierten. Welten schienen sich hinter ihnen zu Befinden. Sie nahmen mich wieder gefangen, nach all der Zeit war ich immer noch nicht imstande mich gegen sie zu wehren. Gegen all das was mich zu ihr zog. Ich war abhängig von ihr. Süchtig.
„Bitte."
Sie öffnete ihren Mund, sagte jedoch nichts.
„Bitte." Flehte ich wieder so leise, dass selbst ich es kaum hörte.
Sie ließ meine Hände los und plötzlich sackte auch ihr Körper zusammen. Sie fiel regelrecht in sich zusammen. Noch immer kniete sie auf meinen Becken. Ihr Blick ruhte auf meinem Gesicht. Vorsichtig, fast schon zaghaft hob sie wieder die Hand. Sie kam immer Näher, bis ihre Fingerspitzen sanft meine Wange berührte. Sobald sie auf meine Haut traf, durchlief mich ein Schlag und auch sie schien es zu spüren, den sofort glitt ihre Hand wieder nach unten. Sekunden vergingen. Es gelang mir nicht mich zu rühren, zu eingenommen war ich von ihr. Der Duft nach Lilien und Rosen benebelte mich. Zaghaft hob sie wieder die Hand und setze ihre Fingerspitzen wieder an meine Wange. Sie wischte etwas Nasses weg. Tränen. Wieder verließ dieses unkontrollierte Schluchzen meinen Brustkorb, lauter, bedrohlicher. Ich hielt es nicht mehr aus, ich hielt es nicht mehr aus, sie zu spüren. Sie zu sehen ...
„Eloise."
Wie konnte sie das tun? Sah sie nicht wie sie mich quälte? Wie kann man so niederträchtig sein?
„Hör auf." Sagte sie. „Hör auf zu weinen." Ihr Gesicht glühte plötzlich.
Ich war nicht mehr der Herr meines Körpers, ohne es zu wollen schrie ich. Schrie so laut, dass uns jeder hören würde. Doch ich konnte nicht anders, ich schrie einfach.
„Shhhh." Ihre Stimme war immer noch wütend, jedoch nicht mehr so gefasst. War sie wirklich wütend? Irgendwas klang verzweifelt. „Shhhh." Ohne das ich es merkte, zog sie mich hoch, zog mich mit sich. Presste mich wieder gegen die Wand. „Shhh. Jeder wird dich hören."
„Las mich los." Meine Hände trommelten auf sie ein. Schlugen gegen sie, als würden es etwas ändern. „DU hast gewonnen, hörst du? DU hast gewonnen!" Schrie ich wieder.
„Was?" Wieder griff sie nach meinen Händen. „Wer hat gewonnen?"
„Er!" Meine Stimme war unerträglich laut. „Er hat gewonnen. Ich halte es nicht mehr aus. Er hat gewonnen. Ich verstehe es jetzt!" Meine Fäuste trafen auf ihren Brustkorb. „Lass mich bitte los Eloise, Bitte!" Und mit einem Mal gaben meine Knie nach, schwer sackte mein Körper zusammen, doch Eloise hielt mich noch immer fest, sodass ich an ihre Brust prallte und nicht auf den Boden. „Eloise."

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