Teil 38- Phoenix

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„Nun Mi-ra, hast du darauf eine Antwort für mich?"
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wusste nicht, was ich überhaupt denken sollte. Eloise stand immer noch zu mir gebeugt, die Hände in den Taschen ihres Mantels vergraben.
„Nein." Es traf mich wie ein Schlag.
„Das überrascht mich nicht."
Sie war schnell, zu schnell für mich in meiner Starre. Eloise überwand die letzten Zentimeter zwischen uns. Unweigerlich hielt ich die Luft an, erwartungsvoll, behielt jegliche Zuckung meines Körpers unter Kontrolle. Und dennoch war ich nicht gefasst darauf, was jetzt kam.
Eloise Lippen trafen mich sanft, so weich und vertraut und dennoch so ganz anders. Sie berührte meine Stirn mit ihnen. Sie schmunzelte, ich war mir sicher, dass sie es tat. Ihre Lippen verharrten nur einen Augenblick dort, bevor sie sich endgültig von mir löste.
„Belassen wir es bei einem guten Nachtkuss. Doch ich hoffe, du kannst mir schon bald eine Antwort geben. Schlaf gut, cherie."
Ihre Schritte auf der Treppe waren unbeschwert, fast schon fröhlich. Sie wechselte ihre Stimmung in Minutentakt.
Und ich? Ich blieb verdattert in Flur stehen, außerstande wirklich zu begreifen was passiert war.

Ich erwachte aus einem wilden Traum und einem schweißgebadeten Lacken. Durch das offene Fenster wehte die kalte, nasse Luft herein und trug den Geruch von Regen mit sich ins Zimmer. Lautes Huppen wurde durch wildes Rufen untermalt und ließ mich endgültig hochfahren. Es war früh. Oder spät? Ich wusste es nicht. Hatte ich mich gestern doch noch in einen tiefen, aber unruhigen Traum getrunken. Ich verfiel in Muster, die ich schon seit Jahren nicht mehr von mir kannte. Die vorherrschende Situation mit Eloise brachte mich um. Und ihre Launen auch. Mein inneres Verlangen, ihr die komplette Wahrheit zu offenbaren, steig von Minute zu Minute an. Und es half nicht, dass ich sie heute wieder sehen würde.
Zu meinem erstaunen war es erst früher Mittag, Eloise hatte sich noch nicht gemeldet. Damjan dafür umso öfter.
Er bombardierte mich regelrecht mit Nachrichten und Anrufen. Allesamt waren es Nachrichten, die mir Mut machen sollten. Mich beruhigen. Sein Mitleid erschreckte mich dabei am meisten. Ich kannte ihn zu gut, um aus seinen aufmunternden Worten das Bedauern ausmachen zu können.
„Wir sollten sie nicht drängen. Gib ihr Zeit und dir auch."
Damjan war schon immer Meisterhaft darin gewesen, mit Ratschlägen um sich zu schmeißen. Doch halfen sie mir nicht.
Ich legte mir die Worte zurecht, reihte sie alle zusammen, bis sie Sinn ergaben. Spielte die Szenarien durch, in denen ich Eloise eine Antwort auf ihr Frage gab. Doch sie klang hohl, undefiniert. Es war eine dieser Antworten, die man bekommt, wenn man nach etwas belanglosem Fragt. Etwas wie dem Wetter.
Und so stand ich am Abend mit schwitzigen Händen und einem undefinierbaren Ziehen im Bauch vor Eloise.

„Was hältst du von klettern?"
Zuerst dachte ich, sie würde Witze machen, doch sie wollte tatsächlich klettern gehen. Ein Hobby von ihr, sagte sie. Eins, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. Und wieder wurde mir bewusst, dass ich diese Frau eigentlich gar nicht kannte.
Die Halle, zu der sie mich bestellt hatte, war so gut wie Menschenleer. Und auch an der Kletterwand waren nur zwei weiter Paare.
„Ich habe uns zwei Stunden geblockt." Verkündete sie und verschwand in der angrenzenden Umkleide. 
„Was soll das Eloise?" Ich folgte ihr durch die Schwingtür und legte meine Sporttasche auf einer Bank ab.
„Wir haben ein Date, sieht man doch." Sie grinste mich an und fing an ihre Sachen auszuziehen. Und als sie ihren Kopf in meine Richtung hob, da schaute sie mich einen Moment komplett ernst an, mit einem Blick, der so Schmerzhaft war, so dunkel wie das Weltall. Etwas stimmte nicht.
„Ich glaube, das bist du mir schuldig." Sie drehte sich wieder von mir. „Die Kette um deinen Hals Mira, die habe ich dir geschenkt, richtig?"
„Du erinnerst dich?" Ich hatte sie nie abgelegt, die Kette, die sie mir an meinem Geburtstag geschenkt hatte. Selbst als ich alles vergessen wollte, ich vor ihr geflohen war, hatte ich sie immer irgendwo bei mir. Und heute Morgen zog ich sie wieder um meinen Hals, schaute den Jadestein an, als wäre er eine Glaskugel, der mir die Zukunft vorhersagen konnte.
„Nein, leider nicht. Aber ich führe anscheinend so etwas wie ein Tagebuch. Ich habe es gestern Abend gefunden."
Mir fror das Blut in den Adern. „Was?"
Eloise war mittlerweile fertig umgezogen. „Keine Sorge, es ist nur eine Art Tagebuch mit einigen Stichpunkten. Das meiste ergibt keinen Sinn, noch nicht. Aber die Kette, die hab ich sogar gezeichnet." Grinsend ging sie an mir vorbei. „Inklusive des Besitzers."
Mit hochrotem Kopf bahnte ich mir meinen Weg in die Halle zurück. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie das tat. Dass sie ihre eigenen Schlüsse zog. Doch ich kämpfte nicht dagegen an.
Ich sah zu, wie Eloise sich die Hände abklopfte, den weißen Kalk aufwirbelte und den Mund zu einem spöttischen Lachen verzog. Ich sah zu, wie sie in der nun Menschenleeren Halle, auf die Kletterwand zuging, und ihren Sicherungshaken in die Halterung klicken ließ.
„Komm schon Mira. Wir können auch noch später reden."
Sie schien es immer noch zu können, meine Gedanken zu lesen. Zu wissen, was ich dachte, noch bevor ich es tat.
Und so nahm auch ich mir einen Gurt und sicherte mich ab, anstandshalber. Nicht das ich so etwas gebraucht hätte.
„Dein erstes Mal?" Fragte Eloise, der ich einen Vorsprung gewährte.
„Klettern? Nein."
„Dann tue nicht so als würdest du Probleme haben damit." Sie zog sich Mühelos hoch und war in einer überdurchschnittlichen Zeit am ersten Vorsprung.
„Eloise, was ist gestern passiert?" Ohne darüber nachzudenken war ich direkt neben ihr, viel zu schnell. Sie schaute mich überrascht an und nickte.
„Dachte ich mir schon. Also bist du kein Mensch richtig?" Sie hielt kurz inne und zog sich mit einem Arm weiter hoch. „Und ich auch, nicht wahr?"
„Bei dir sind wir uns noch nicht zu hundert Prozent sicher." Zugegeben, ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie heute mit diesem Thema anfangen würde.
„Wir?" Sie lockerte ihren Griff und sprang wieder zu mir auf den Absprung herunter. „Weißt du was? Lassen wir das! Lassen wir das alles drum herum. Können wir einfach du und ich sein? Ich erinner mich nicht Mira, an gar nichts. Doch ich merke das ich dich mag. Schenk mir doch noch diesen einen Abend. Einen, an dem wir nur du und ich sind. Zwei, die sich gerade erst kennenlernen?"
Ich wollte protestieren, doch Eloise hielt mich davon ab.
„Mira bitte, nur noch ein einziges Mal."
Ihre Angst war spürbar, sie lag schwer über uns, über der gespielten unbeschwerten Stimmung. Es war mir nicht klar, wie viel sie tatsächlich wusste. Was sie ahnte und was sie vermutete. Welche Schlüsse sie zog und vor allem, was zum Teufel in diesem Tagebuch stand.
„Und?" Fragte sie trotzig, als wüsste sie meine Antwort schon.
„Nur ein einziges Mal sagst du?" Ich schaute sie an, versuchte mein Gesicht zu kontrollieren. Zwang das so oft geprobte Lächeln auf meine Lippen und nickte.
„Gut."
Sie hörte mir schon gar nicht mehr zu. Ihre Hände fanden routiniert an die Kletterwand zurück und sie setzte wieder da an, wo sie aufgehört hatte.

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