Teil 7- Vergissmeinnicht

856 52 0
                                    

Die Sonne brannte erbarmungslos auf mich herunter. Die Wärme, die sie ausstrahlte, zog kribbelnd durch jede Faser meines Körpers, durchdrang mein Innerstes. Seufzend warf ich mich auf die Wiese und schaut den Wolken zu, wie sie langsam am Himmel vorbeizogen. Wie Wellen die sich an hohen Felsen brachen und eine Schaumkrone bildeten, wenn sie zurück in die weiten des Meeres flossen sie heute aus. Was hätte ich alles gegeben, um ein Teil von ihnen zu sein.
Meine Jacke legte ich unter meinen Kopf und zündete mir eine Zigarette an. Der Rauch stieg ebenso langsam in Richtung Himmel, tanzte hin und her umspielte meine Hand, die ich dem Himmel entgegenstreckte. Frei sein, so frei wie man nur sein konnte... Doch gab es diese Freiheit? Tausende Jahre suchte ich schon nach ihr, ein kläglicher Versuch, zum Scheitern verurteilt. Egal wohin ich ging, was ich auch machte, ich kam nie davon los. Dem Suchen, der Sehnsucht nach etwas, nach etwas nicht greifbaren, danach frei zu sein. Doch ich fesselte mich an die Freiheit, voller Angst die Suche zu verlieren, ohne überhaupt zu wissen, wonach ich suchte. Erreichte immer den Punkt, an dem ich, spürte das, die Schlinge um mich immer fester gezogen wurde, von mir selbst. Ich hielt beide Enden des Seils in meinen Händen und wickelte sie um meinen Hals, drückte die Luft heraus bis nur noch Leere war.
Ich war leer, so vollkommen leer, dass ich ausgefüllt wurde von diesem Nichts. Jeden Tag mehr wurde das Nichts stärker, verwandelte sich, wurde unaufhaltbar, kraftvoll, wütend. Ich war erfüllt von leerer Wut, getrieben von einem unstillbaren Verlangen. In all meinen Jahren hier auf der Welt, hatte ich so was noch nie erlebt: Meine Seele fand keine Ruhe mehr.

Ein Schatten legte sich über mein Gesicht.
„Ich werde wegziehen.", sprach ich.
„Wieso? Du magst deine Wohnung dachte ich." Damjan stand vor meinen Füßen und verdeckte die Sonne mit seinem Oberkörper.
„Nein, ich ziehe weg von hier. Die Wälder in Kanada fand ich schon immer schön." ich klopfte neben mich, damit er aus der Sonne ging. Ich wollte die Hitze wieder auf meiner Haut spüren.
„Kanada? Wieso?" er sank neben mich in und schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf.
„Hier das alles bringt doch nichts Damjan. In drei, vier Jahren müsste ich eh wegziehen, wieso nicht gleich jetzt? Es läuft alles im Moment anders, als ich es erwartet habe." Ich schaute ihn immer noch nicht an.
„Schläfst du?"
„Was ist denn das für eine Frage? Das hat damit überhaupt nichts zu tun und du weißt, das ich im Moment schlecht schlafe." Genervt fischte ich noch eine Zigarette aus der Schachtel.
„Deine Seele kommt nicht zu Ruhe, du denkst nicht klar. Jetzt zu gehen würde nichts bringen, du würdest dein Molniya mitnehmen." Er nahm mir die Zigarette aus der Hand und zog daran.
Molniya, Blitz, so nannten wir unseren Geist. Eigentlich wusste ich das er recht hatte. Unser Geist war alt, er war ein Teil der Seele, hielt sie im Gleichgewicht. Wenn er nicht ruhte, versagte er der Seele Frieden und sie rebellierte.
„Mag sein, aber ich kann meinen Geist auch in Kanada in den Tiefschlaf versetzen!" Ich zog meine Zigarette wieder zurück und inhalierte den Rauch tief.
„So funktioniert das nicht, das weißt du Solnoschka."
Sonne, wie kam er darauf, dass dies der richtige Spitzname für mich wäre. Ich war das Gegenteil.
„Wenn du jetzt gehst, entreißt du deinen Geist auf seiner Suche. Es gibt etwas, was du hier suchst, sonst wäre dein Molniya nicht so aufgewühlt. Du musst schlafen, dann gibst du ihm eine Pause. So findest du keine Lösung." Seine Weisheiten immer, er glaubte an die Worte der Weisen, die sie uns vor Jahrhunderten in unseren Stämmen erzählt haben. Die Worte der Götter. Als kleines Kind habe ich die Geschichten am Lagerfeuer geliebt. Gebannt Hang ich an den Lippen meines Großvaters, wenn er von den Göttern und Geistern erzählte. Bilder in den modrigen Waldboden malte und uns Geschöpfe zeigte, die noch älter waren als wir selbst.

Damjan riss mich aus meinen Gedanken und reichte mir eine kleine Flasche. Ich hielt sie hoch gegen die Sonne, rote Flüssigkeit schwappte hin und her.
„Was ist das?", fragte ich ihn.
„Schlaftrank, ein Rezept meiner Mutter." er legte den Kopf schief und schaute mir dabei zu, wie ich den Saft hin und her kippte.
„Schlaftrank?"
„Ja, das gab sie meinen Geschwistern als sie Zähne bekommen haben und in der Nacht nicht schlafen konnten." sein Grinsen war nicht zu überhören.
„Damjan, ich habe seit tausenden Jahren alle meine Zähne schon, aber danke, dass du daran gedacht hast. Hast du auch einen Beißring, oder was gibt man Babys heutzutage?"
Sein Lachen hallte durch die Bäume am Rande der Lichtung.
„Nein, es ist das 500fache Konzentrat, deswegen konnte ich es dir erst jetzt geben. Damit kannst du ein paar Elefantenherden schlafen schicken." Er tippte mir dabei auf die Schulter.
„Wow, du schmeißt ja heute förmlich mit Komplimenten um dich!"
Ich drehte mich zu ihm um und verdrehte demonstrativ die Augen. „Probier es aus. Wenn es nicht hilft, dann geh nach Kanada, aber ich kann dir versichern, es wird dir nur noch mehr schaden. Und du bist momentan schon Azrael persönlich." Wieder lachte er und gab mir einen Schubs.
„Du übertriffst dich mit jedem Wort, Danke! Also bin ich ein über 2000 Jahre alter Todesengel, der zahnt und unter Schlafstörung leidet. Und du fragst dich, warum du keine Frau hast." Ich schubste ihn zurück und er ließ sich auf den Rasen fallen.
„Tja, ich bin halt etwas für Kenner." Damjan fing an Halme auszureißen. Immer wieder blies er in seine Handflächen und versuchte ihnen einen Ton zu entlocken. Als es endlich klappte, strahlte er mich an.
„Ja und musikalisch bist du auch, Herr Doktor." Wir standen beide auf und gingen den kleinen Weg in den Wald hinein.
„Lass uns laufen." Rief er mir winkend zu, bevor er hinter den ersten Bäumen verschwand. Und wir liefen, nein wir rannten so schnell, dass wir fast unseren eigenen Schatten überholten. Liefen und sprangen über Felsen und Baustümpfe. Der Wald zog an uns vorbei, kleine Hasen sahen sich erschrocken um als wir an ihnen vorbeisprinteten. Und ich lief als ginge es um mein Leben, immer weiter und weiter, bis die Sonne anfing langsam am Horizont zu verschwinden. Wir trabten auf die Lichtung zurück und ich richtete meinen Blick gegen den Himmel, in der Hoffnung Sterne zu sehen. Vergebens.

„Komm, wir gehen noch was essen!" Schlug er vor und jeder stieg auf seine eigene Maschine. Es hatte gut getan, mein Körper war leichter geworden. Mein Kopf aber nicht. Ich folgte ihm in einen viel gemächlicheren Tempo, als das, was ich sonst so auffuhr. Wir schlängelten uns in den Stadtverkehr ein und er zeigte mir an ihm zu folgen. Am Hafen, unweit von HUNTED kamen wir zu stehen und gingen stumm den kleinen Steg zu dem Restaurant auf einem Hausboot entlang. Die Karte lockte mit allerlei Köstlichkeiten, doch nichts sprach mich an, ich wollte nicht essen. So bestellte er für uns das erst beste, Wein und das einzige, was ich orderte, war Absinth, eine Flasche. Er zog die Braue hoch und klappte die Karte zusammen, die ihm eine übereifrige Kellnerin abnahm. Sie beugte sich ihm entgegen und warf ihm ihr schönstes Lächeln zu und empfahl ihm noch irgend etwas, ich hörte nicht zu. Zweimal fragte sie mich, ob ich den wirklich eine ganze Flasche Absinth wollte, mich beschlich das Gefühl, dass sie einfach länger an unserem Tisch bleiben wollten. Da ich nichts sagte, hing auch Damjan stumm seinen Gedanken nach, bis unser Essen kam. Lustlos stocherte ich in der Grillplatte herum und trank einen vierfachen Absinth, nicht ohne unterm Tisch ein paar Tropfen Bittermandel reinzutun.
„Nun, dann erzähl mal." Setzte Damjan an.
Ich spürte den Alkohol, konnte seinen Blick nicht standhalten und brummte nur vor mich hin.
„Na los Mira, ich warte!" über den Tisch hinweg griff er meine Hand und drückte diese zur Ermutigung.
„Es gibt nichts zu erzählen Dam, es reicht mir hier einfach alles. Es ist alles so festgefahren." Als ich meine Hand wegziehen wollte, hielt er sie fester, fast so als hätte er Angst ich würde nichts mehr sagen, wenn er sie nicht mehr hält. Sein Blick war wissend. Er wirkte traurig, einen Anblick den er selten zuließ. Als er sprach hatte er ins Ralajanische gewechselt, die Sprache der Seelenwanderer. Sie fiel auf, so fremd klang sie für die Ohren der Menschen, deswegen sprachen die meisten von uns in der Öffentlichkeit Russisch. Es hatte sich vor einigen hundert Jahren so entwickelt, es bot sich an. Viele der Seelenwanderer hatten ihre Ahnen in den Hunnen und Goten, oder waren selbst einst welche gewesen, so wie wir zwei.
„Und weiter?" Seine Worte brannten auf meiner Seele. Deswegen der Wechsel, er wusste, was er tat.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Jede Nacht träume ich denselben Traum, immer suche ich, suche und suche und suche. Jeden Tag mehr und mehr. Ich habe Angst davor zu schlafen, gleichzeitig kann ich es nicht. Mein Kopf platzt. Verstehst du?" Ich schaute ihn an und er nickte nur. Ich trank noch mal einen nach, bevor ich weiter fuhr und er zog meine Hand wieder in seine, es gab mir Mut.
„Weißt du, ich verstehe es nicht. Noch nie in fast 2000 Jahren, habe ich so etwas gehabt, diese Wut über mich. Dieses Gefühl, dass ich nicht aufhören kann zu suchen und das die Lösung schon längst klar sein sollte. Ich habe das Gefühl kämpfen zu müssen, doch ich habe keine Gegner. Von Tag zu Tag wird es schlimmer, es macht mich fertig verstehst du das? Es frisst mich auf."
Wir saßen still da, es war als hätte sich eine Blasse um uns gestülpt und würde die Außenwelt ausblenden.
„Ich träume immer wieder von Iruna und wie ich sie damals getötet habe." Beendete ich meinen Monolog. Meine Lippen fingen an zu zittern und ich wollte weinen, doch ich konnte nicht.
„Oh, ich verstehe. Mira, Mira hör mir zu!" er zog mein Gesicht wieder nach oben und zwang mich ihn anzusehen.
„Du suchst seit jeher nach Vergebung, aber kannst dir selbst nicht vergeben. Du hast sie nicht getötet, es war ihre Bestimmung zu sterben, verstehst du das? Dein Molniya will deine Seele beschützen, den es ist Zeit das du dir vergibst. Du bist keine Mörderin, sonst wäre ich auch einer." seine Augen waren so voller Trauer. Denn auch für ihn ist jemand gestorben, es war unsere Strafe, wir mussten ewig damit leben. Anders als ich fing er sich schnell wieder und sprach mit fester Stimme weiter.
„Ich glaube, du rebellierst gegen Gefühle. Gefühle die deiner Meinung nach nicht sein dürfen. Vielleicht hat deine Seele ja ihr Glück gefunden, doch du willst es ihr nehmen, wer weiß das schon. Schlaf dich heute aus, ich denke dann siehst du klarer." Er lächelte und hielt mir wieder ein Glas hin. Wieder brummte ich nur und trank. Wir hatten die Flasche nach gut eineinhalb Stunden geleert, wobei ich Dreiviertel allein getrunken habe.

„Mira, Liebes, wir gehen jetzt archivieren."
Wir hatten gerade gezahlt und gingen am Ufer spazieren. Ich hatte ihm die Sache erzählt und mich dabei in Rage geredet.
„Du spinnst, ich werde diesen Scheiß trotz allem nicht machen!", erwiderte ich genervt. Damjan redete jedoch auf mich ein, zog mich mit sich und tanzte fast um mich rum. Er war leicht angetrunken, genauso wie ich und ich hatte keine Lust mit ihm zu diskutieren. So trug ich, um kurz vor 22Uhr, die Kisten mit den Rechnungen in den Kopierraum und schloss meinen Laptop an den Scanner an. Er fing an zu scannen, während ich mich auf das riesige Gerät platzierte und die Ordner anlegte. Wir bedienten alle vier Fächer gleichzeitig, um so schnell wie möglich fertig zu sein. Gegen Mitternacht zog er einen Flachmann aus der Jackentasche und reichte ihn mir.
„Haben wir uns verdient und du schläfst danach besser!" Er klatschte in die Hände und kam jetzt zu mir rüber.
„Ist das so? Dann muss ich wohl auf dich hören, Herr Doktor!" Es war stark, er hatte also wieder selbst was zusammen gemischt. Die Bestätigung bekam ich durch ein freches Grinsen seinerseits. „Tja was tut man nicht alles für seine liebste Seele." Wieder lachte er mich an und ich zog ihn in meine Arme. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich schon längst durchgedreht.
„Danke!" Flüsterte ich ihm zu. Im selben Moment wurde die Tür aufgezogen und eine Tasse flog dem Boden entgegen. Es schalte laut, als sie auf dem Teppichboden dumpf aufschlug. Eloise stand wie angewurzelt in der Tür und starrte uns an. Sie rührte sich nicht. Ihre Pupillen fingen an sich zu weiten und wieder zusammen zuziehen und ihr Gesicht wurde knallrot.
„Ich, ich dachte ich bin allein hier. Mit Ihnen hätte ich nicht gerechnet. Sonst hätte ich, ich." Stammelte sie. Damjan grinste sie immer noch an und ich löste meine Arme von seinen Schultern.
„Ähm ja, Hi! Wir haben nur die Sachen archiviert, die Sie so dringend brauchten!" meine Stimme war gereizter als gewollt als ich sprach. Was machte sie um Mitternacht noch hier?
„Ah so ja, danke! Das wäre aber nicht nötig, also dass Sie das so spät noch machen." noch immer stand sie neben sich.
„Zu zweit geht die Arbeit ja auch viel schneller, wir waren außerdem sowieso in der Nähe." mischte sich Damjan ein. Sie wand endlich den Blick von uns ab und strafte sich.
„Verstehe. Dann vielen Dank. Legen Sie die Sachen wie immer einfach in mein Büro. Schönen Abend." ihre Stimme klang belegt, aber sie funkelte uns wieder gewohnt kalt an.
„Werden wir haben!", erwiderte Damjan an meiner Stelle und ich hämmerte ihm meine Faust auf die Schulter. Sie ging rückwärts wieder raus und verließ fluchtartig das Büro.

Es war mir unangenehm, dass sie mich so angesehen hatte, sie hatte eindeutig ein furchtbares Timing!
„Lass uns gehen, wir sind hier fertig." verkündete ich und brachte alles in Eloise Büro. Ich zog einen Post-it von ihrem Tisch. „Alles wie gewollt hinterlegt.", schrieb ich und fügte ein „So spät sollten Sie nicht mehr arbeiten!" auf die Rückseite hinzu. Vielleicht würde sie es finden, vielleicht auch nicht.
Damjan rief uns ein Taxi und setzte mich zu Hause ab. Er wollte noch feiern gehen, etwas womit er mich heute nicht mehr locken konnte. Schnell duschte ich mich und fischte das Flächen aus meiner Jackentasche. Noch immer schimmerte es unscheinbar rot, als ich es in ein Glas kippte. Ich füllte es mit Wasser auf und trank die Brühe in einem Zug leer. Es schmeckte so widerlich, dass ich dachte ich würde auf der Stelle brechen. Doch nichts passierte und so lag ich nach kurzer Zeit im Bett. Leise hörte ich den Wind am Fenster wehen und versuchte meine Gedanken auszublenden. Langsam aber sicher driftete ich ab, alles um mich rum wurde blass, meine Augenlider schwer. Mein ganzer Körper sackte ab und ich schlief.

Seit über einem Monat schlief ich wieder einen traumlosen, festen Schlaf!

SEELENWANDERERDonde viven las historias. Descúbrelo ahora