2.1 | I AM FINE

36 3 6
                                    

IM HERZEN EINES jeden Hurrikans gibt es ein Auge. Einen Ort im Zentrum des Sturms, wo die Wellen ruhig und die Winde still sind. Im Auge des Sturms fühlt sich die Gefahr weniger vorherrschend an - ein abgeschiedenes, weit entferntes Übel, dass dir keinen Schaden zufügen kann, da es nicht in der Lage ist dich zu erreichen - aber dieses Empfinden ist nichts weiter, als ein falsches Gefühl von Sicherheit.
Das Auge des Sturms ist nicht das Ende des Sturms. Es ist eine Atempause, keine Auflösung.
Früher oder später holt der Sturm dich wieder ein.
Und das völlig unvorbereitet.

-☆-

Danbi stoppte in ihrer Bewegung.
So abrupt, dass Jeong-guk ihre Abwesenheit an seiner Seite erst drei Schritte später bemerkte.
Würden ihre Füße ihr gehorchen, wäre sie noch im selben Moment in die genau entgegengesetzte Richtung verschwunden, zurück in Jeong-guks Wohnung, ihrem persönlichen Auge des Sturms. Oder nach Deutschland in die Arme ihrer Freunde, wo es immer so schien, wie als könnte ihr niemand etwas anhaben. Im Übrigen auch zu ihrem Dad, der seine Tochter selbst im Sommer noch mit einer Tasse heißem Kakao trösten würde.
Verdammt, um ihretwillen einfach irgendwo anders hin.
Nur nicht hier, einen Häuserblock von ihm entfernt.

Jeong-guk sah Danbi erst fragend an, dann folgte er ihrem Blick in Richtung des Gebäudes.
„Was ist los?"
Sie stand nur wie erstarrt dort. Seine Frage wurde von den lauten Gedanken in ihrem Kopf übertönt.

Das konnte nicht wahr sein.
Was machte er hier?

Natürlich war ihr klar gewesen, dass sie ihm in der nächsten Zeit wieder begegnen müsste.
Aber sie hatte nicht erwartet, dass es so bald sein würde.
Angst erfüllte die Frau, bei der Erkenntnis, wie unvorbereitet sie auf diese Auseinandersetzung war. Wenn es nach ihr ginge, würde sie die nächste Woche vermutlich einfach in ihrem Zimmer verbringen und das vergangene Jahr Revue passieren lassen, bis sie irgendwann zu dem kindlichen Entschluss kommen würde, dass sie ihn und alle ihre gemeinsamen Momente irgendwie vergessen müsste.

Wo sie so drüber nachdachte, waren Kontaktabbrüche schon ein seltsames Konzept. Jeder sprach darüber, wie befreiend es sich im Nachhinein anfühlte, aber niemand beschrieb den Schmerz, den man zuvor erlebte. Den Mut, den man dafür brauchte oder wie sehr es eine Person zerreißen konnte, zu wissen, dass sie loslassen musste, nicht weil sie es wollte, sondern weil es das einzig Richtige war.
Und tief in ihrem Inneren wusste Danbi, dass sie ihm nicht vergeben konnte, egal wie sehr sie es auch versuchen würde.

„Danbi?"

Mit einem zittrigen Atemzug setzte sie einen Fuß vor den anderen.
Es war jetzt keine Zeit mehr, um über all die möglichen Richtungen zu fantasieren, die das Gespräch einschlagen könnte oder sich Sätze bereitzulegen, die man später sagen konnte, wenn es hart auf hart kam.
Aber vielleicht war genau das, das Gute an dieser Situation.
›Man musste sich seiner Vergangenheit stellen, um die Zukunft zu begrüßen‹ und so ein Zeug.

Auf dem Weg ließ sie ihr Ziel nicht aus den Augen.
Minho hingegen sah die zwei nicht kommen, da er zu sehr mit seinem Handy beschäftigt war. Erst als ihre Schatten vor seinen Füßen anhielten, blickte er auf.
„Babe."
Mit einem Satz stand er vor ihr. Und plötzlich waren die drei Meter zwischen ihnen, die sich sonst immer wie mehrere Kilometer angefühlt hatten, viel zu wenig.
Danbi biss die Zähne aufeinander.
Von wegen ›Babe‹, schluckte sie bitter.

„Was willst du hier?"
Beim Anblick ihrer Begleitung verdunkelte sich sofort seine Miene, wie als hätte die Anwesenheit eines anderen Mannes an Danbis Seite, einen Schalter in ihm umgelegt.
Danbi musste ein verächtliches Schnauben unterdrücken.
Gott, wie ironisch.
„Wer ist er?!", fauchte Minho und schon war die Aufmerksamkeit aller Passanten auf die Dreiergruppe gerichtet.
Danbi fragte sich, was aus dem liebevollen Mann geworden war, der nur für seine Freundin in ein anderes Land zog. Der Mann, der noch vor drei Wochen im Auto mit seiner Freundin laut zu ›Call me maybe‹ gesungen hatte und sie nun stattdessen an einen Zähne fletschenden Hund erinnerte.
Bei dem abwertenden Blick, mit welchem er Jeong-guk musterte, spürte sie, wie sich Besagter neben ihr anspannte.

Hidden Talent | Jeon JungkookWhere stories live. Discover now