Prolog

33 5 2
                                    

„Nichts im Universum ist so schnell wie das Licht, sagen sie, und vergessen dabei die Geschwindigkeit des Schattens." - Howard Nemerov

~°~°~°~°~°~°~°~°~°~°~°~°~°~°~

Wir hatten ein Geheimnis.

Ein Geheimnis, was auf uns lastete - uns sogar bedrohte.

Es war vielleicht ein Segen, vielleicht auch ein Fluch.

Es war eine Gabe, die gehütet werden musste.

Meine Mutter hatte mir schon früh ans Herz gelegt, mit niemanden darüber zu sprechen. Egal was passierte, ich dürfte niemanden sagen, was in mir lauerte - auch wenn ich den Personen vertraute. Sie durften es nicht wissen.


„Sie würden dich jagen – sie würden dich bis ins Tiefste verachten!"


Ich hatte nie richtig verstanden, welche Bedeutung hinter diesen Worten gesteckt hatte. Immer und immer wieder hatte ich meine Mutter danach gefragt, doch sie hatte mir nie eine ehrliche Antwort gegeben.


„Sie verachten das Übernatürliche."


Das Übernatürliche... es war in meinem Blut, es lag in meiner DNA.

Sie hatte es mir vererbt, ich trug die gleiche Kraft in mir, welche auch sie besessen hatte.

Es war die Fähigkeit, mit den Schatten zu sprechen.

Ich wusste nicht, was sich hinter diesen Worten verbarg – ich wusste nicht einmal richtig, wie man mit den Schatten sprechen konnte.

Sie hatte es mir nie gezeigt.


„Es ist besser, wenn du das Verständnis vorerst nicht erlangst."


Sie versuchte mich zu schützen – zumindest hatte sie das einmal erwähnt, als sie mit meiner Großmutter gesprochen hatte. Ich hatte das Gespräch zufällig mitbekommen, eigentlich hätte ich nicht zuhören dürfen, doch meine Neugierde hatte die Überhand gehabt.

Schutz.

Ich hatte am eigenen Leib erfahren, wie sich dieser angefühlt hatte.

Meine Kindheit – wie soll ich es am besten beschreiben – ist ein wenig anders gewesen.

Durch mein „besonderes" Gen war es nicht unüblich gewesen, dass ich als Kind unkontrolliert Schatten erzeugt hatte, welche ich ohne die Hilfe meiner Mutter nicht hatte eindämmen können.

Das Spielen mit anderen Kindern war daher recht schwierig gewesen, da ich in ihren Augen praktisch eine „tickende Zeitbombe" gewesen war.

Mom hatte immer dabei sein müssen, wenn ich mich mit jemanden verabredet hatte. Andere Kinder hatten mich komisch gefunden - sie hatten mich deshalb geärgert oder gemieden.

Das hieß aber nicht, dass ich unglücklich gewesen war - ganz im Gegenteil!

Ich hätte mir für meine Kindheit nichts anderes wünschen können.

All das, was ich nicht hatte erleben können, hatte meine großartige Mutter wieder für mich wett gemacht.

Sie war immer für mich dagewesen.

Wir hatten zusammen gelacht, geweint, gespielt, Sachen erlebt... egal was ich mir gewünscht hatte, meine Mutter hatte einen Weg für uns gefunden.


„Ohhhh, ist die kleine Hallee noch ein Baby?"


„Haha, sie macht nur etwas mit ihrer Mama! Hat sie etwa keine Freunde?"


Je älter ich geworden bin, desto schlimmer waren die Kommentare gewesen.

Die Aussagen hatten auf einmal mehr wehgetan.

Ich hatte lange nachgedacht, das weiß ich noch.

Stundenlang hatte ich in meinem Zimmer gesessen – ich hatte darüber nachgedacht, ob ich wirklich so anders war... Ich hatte den Worten immer mehr Beachtung geschenkt – mit dieser war der Glauben gekommen, dass sie Recht hatten.

Und wieder war meine wundervolle Mom für mich da gewesen.

Sie hatte mir beigebracht, ein solches Gerede nicht zu Herzen zu nehmen.

An jenem Abend hatte sie mich fest in ihren Arm gezogen und mich getröstet, als ich geweint hatte. Danach hatten wir zusammen einen Kuchen gebacken.

Das waren Erinnerungen, woran ich mich gerne erinnerte.

An das unbeschwerte Aufwachsen, trotz der Schwierigkeiten, die unsere Familie tragen musste.

Die Freiheit, die sie mir gegeben hatte, die Möglichkeiten, die sie für mich öffnete... Normen, Werte, Allgemeinwissen und so viel mehr – ich hatte es von ihr gelernt.

Es gab fast nichts, was sie nicht gekonnt hatte.

Sie war Ärztin, also hatte sie mir den Körper ein wenig nähergebracht... sie hatte mir die Welt der Medizin nähergebracht...

Sie hatte mir die Schönheit der Natur gezeigt... die Kraft der Pflanzen...

Sie hatte mir in so vielen Dingen die Augen geöffnet.

Und trotzdem hatte sie mir nicht ein einziges Mal erklärt, woher das Gen unserer Familie stammte und was es genau war.

Doch der Zug war abgefahren, ich würde die Chance nie wieder bekommen, mit ihr darüber zu sprechen.


Nie hatte ich erwartet, dass diese Zeiten einfach so enden würden.


Nie hatte ich erwartet, dass ich plötzlich einfach so alleine sein würde.


Doch sie war weg.

Auf einmal war sie weg.

Sie hatte mich verlassen.

Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, wurde ich mir dessen bewusst.

Mein Vorbild, meine Stütze... sie war von einem Moment auf den anderen nicht mehr da.

Jedes Mal, wenn ich an das Gute dachte, sah ich die Flammen erneut.


Die Flammen, die meine liebevolle Mutter in sich verschluckt hatten.

Golden Blood | Eyeless JackWhere stories live. Discover now