Spieglein, Spieglein an der Wand...

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Mit dem Gedanken, dass das schlimmste jetzt vorbei sei, lag ich grundlegend falsch.

Ich musste mich praktisch nach unten zwingen, da sich mein Körper dagegen wehrte, Eyeless Jack noch einmal unter die Augen treten zu müssen – doch mein Wille war stärker gewesen. Ich war nicht im Gemütszustand, herauszufinden, was er machen würde, wenn ich nun doch zu spät kam.

Im Nachhinein wäre es wohl besser gewesen, wenn ich mich in meinem Bett vergraben hätte.

Das Erste, was mich im Medical Room erwartete, war ein Glas Blut, welches auf einem der Tische platziert worden war. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus, als ich wieder einmal das Aroma wahrnahm, welches sich bereits im Raum verteilt hatte.

Mein Mentor saß wieder an seinem ursprünglichen Platz und hantierte mit Mikropipetten und durchsichtigen Flüssigkeiten, anhand seiner Körperhaltung konnte ich jedoch erkennen, dass er meine Präsenz bereits wahrgenommen hatte.

Ich riss meinen Blick von der Flüssigkeit los und presste mich stattdessen gegen die Wand neben der Tür, um mich von Krawallzügen abzuhalten.

„Neue Regel – sie gilt nur für dich", ich zuckte etwas zusammen, als seine tiefe Stimme die Stille schnitt, „Du wirst jeden Morgen und Abend unter meiner Aufsicht dieses Glas leeren – koste es auch, was es wolle."

Die Realisation traf mich mit voller Wucht.

„Wir Mentoren mussten dem Operator schwören, dass ihr in eurer gesamten Ausbildung in einem guten Gesundheitszustand seid", er drehte sich mit seinem Drehhocker in meine Richtung, „Das ist meine Aufgabe – wir wollen doch nicht riskieren, dass du uns auf den Fluren wegstirbst, richtig?"

Es klang beinahe wie eine Drohung – als würde er mir sagen wollen, dass ich selbst nach meinem Tod durch eine Hölle gehen würde, die kein Mensch erleben wollte. Und ich glaubte ihm, wenn er das sagte.

„Und wenn ich Gewalt anwenden muss – es ist mir herzlich egal, ob do kooperativ bist oder nicht – am Ende jeden Tages wirst du zwei Gläser getrunken haben."

Es gab kein Entkommen.

Ich hätte am liebsten geschrien, ihn verurteilt... doch wieder einmal traute ich mich nicht.

Der Grund? Die Angst.

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Die nächsten Tage sind wie im Flug vergangen. Würde mich jemand fragen, was ich alles erlebt hatte, könnte ich es nicht sagen – meine Erinnerungen waren wie vernebelt.

Ich hatte viele Aufgaben übernommen – das wusste ich noch, aber welche es genau gewesen waren, wusste ich dann nicht mehr.

Es war, als würde mich mein Gehirn vor etwas schützen, als würde es bewusst abschalten.

Auch heute war ich wieder wie eine Puppe herumgelaufen und hatte meine aufgetragenen Aufgaben erledigt. Wie immer hatte ich morgens das Blut hinuntergewürgt, auch wenn ich heute nur ein halbes Glas geschafft hatte – ganz zum Missfallens meines Mentors. Es hatte nicht viel gefehlt, dass er mir den restlichen Inhalt in meinen Hals gekippt hätte.

Doch heute war etwas anders – es gab etwas, was mich aus meiner seltsamen Trance befreite.

Als ich nachmittags durch die Gänge eilte, um ein paar Kartons wegzubringen, erfasste mich ein seltsames Gefühl. Es war erst kaum bemerkbar, doch je weiter ich in die verwinkelte Villa eindrang, desto komischer wurde es.

Es war, als würden tausend Schmetterlinge durch meinen gesamten Körper fliegen.

Ich versuchte, das Gefühl abzuschütteln, während ich ein paar Kartons in eine Abstellkammer stellte. Doch egal wie doll ich mich auf meine „innere Ruhe" konzentrierte, es wurde einfach nicht besser.

Golden Blood | Eyeless JackWhere stories live. Discover now