24.Kapitel

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Ich wartete bis es dunkel war und alle zu Bett gegangen waren. Vorsichtig kletterte ich aus dem Fenster und ließ mich an der Dachrinne nach unten gleiten, leichtfüßig landete ich in einem der Blumenbeete. Rasch rappelte ich mich auf und begann meine Reise.

Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal in einer solchen Nacht und Nebel Aktion das Haus meiner Eltern verlassen würde. Und während ich über die Landstraße wanderte überkam mich ein furchtbar schlechtes Gewissen.
Es war mitten in der Nacht, als ich das Dorf erreichte. Der Mond schien hell und rauchte alles in sein bleiches Licht. Nirgendwo regte sich etwas... Und ich beschloss, gleich weiter zu laufen, bis ich die Stadt erreichen würde. Denn an Schlaf war sowieso nicht zu denken.

Während dieses langen Fußmarschs dachte ich die ganze Zeit an George und wie es ihm wohl ergehen mochte. Und immer wieder meldete sich mein schlechtes Gewissen."

"Warum hattest du ein solch schlechtes Gewissen" fragte Charlotte. "Weil ich es falsch fand meine Eltern einfach so zurück zu lassen und das auch noch in einer so harten und schwierigen Zeit..."
"Wie weit war es eigentlich bis zur Stadt?" Ich überlegte einen Moment und antwortete: "mehr als 30 Kilometer..." Verblüfft und etwas geschockt sah meine Enkelin mich an. Denn es war in ihrer Generation nicht üblich eine solche Entfernung zu Fuß zurück zu legen.

"Im Morgengrauen erreichte ich den Bahnhof. Meine Füße schmerzten, ich war erschöpft und mein Magen fühlte sich, als wäre die letzte Mahlzeit ein Jahr her gewesen. Doch ich kaufte mir von dem bisschen Geld was ich besaß nichts zu Essen, aus Angst, dass es nicht reichen würde um bis nach London zu kommen.

Ich hatte Glück und musste weniger als eine Stunde auf den Zug warten. Ich vertrieb mir die Zeit damit die Leute zu beobachten. Die meisten Menschen, die über den Bahnsteig eilten, waren Frauen, die unterwegs zur Arbeit waren. Jetzt wo die Männer im Krieg waren, war es die Aufgabe der Frauen ihre Familien zu ernähren und in den Fabriken, den Läden und auf den Feldern zu arbeiten. All diese Frauen sahen, bleich, müde und besorgt aus. Und ich wollte mir lieber nicht all das Leid ausmalen, welches sie bedrückte.

Der Zug kam pünktlich und ich stieg, wie ich es gewohnt war in einen Waggon der dritten Klasse. Seit ich die Vorzüge der ersten Klasse kennengelernt hatte, erschien mir die dritte Klasse noch unzulänglicher als vorher.

Als der Schaffner kam um die Karten zu kontrollieren, bemerkte ich eine weitere Veränderung, die der Krieg mit sich brachte. Denn der Schaffner war nicht wie gewöhnlich männlich sondern weiblich.

Die Zugfahrt erschien mir endlos lang. Ich starrte aus dem Fenster, aber nahm die Landschaft, die an mir vorbei zog überhaupt nicht wahr. Denn in meinem Kopf sah ich nur das Bild von George.

Er war der wunderschönste und wundervollste Mensch, den es gab. Ich liebte alles an ihm, und ich konnte es mir nicht vorstellen ohne ihn zu leben.

Am späten Abend erreichte ich London. Bisher hatte ich keine Ahnung, wo ich bleiben sollte... Als ich auf dem Bahnhof stand überrollte mich eine Welle der Verzweiflung. Mit meinem kleinen Rucksack auf dem Rücken verließ ich den Bahnhof. Und ich erinnerte mich, dass im Haus des Lords immer eine Köchin und ein Diener lebten, um das Haus zu hüten.

Das schicke Wohnviertel befand sich leider sehr weit weg von dem schmutzigen Bahnhof. Und ich war zu erschöpft um noch einmal einen solch langen Fußmarsch auf mich zu nehmen. Deshalb beschloss ich die Untergrund Bahn zu nehmen.

Bisher hatte ich Skrupel in einen Zug zu steigen, der unter der Erde fuhr. Doch meine Müdigkeit siegte über meine Furcht.

Als ich die gefliesten Gänge nach unten stieg überkam mich ein mulmiges Gefühl. Meine Schritte hallten gespenstig durch die nur spärlich beleuchteten Gänge.

Der Unterirdische Bahnsteig sah beinahe genauso aus wie einer der Oberirdischen. Was mich ein wenig beruhigte. Außer mir warteten nur ein paar müde drein Blickende Frauen, die anscheinend auf dem Weg zur Spätschicht waren.

Ein lautes beinahe ohrenbetäubendes Dröhnen kündigte die Ankunft des Zuges an. Und als ich sah, dass hier unten ein ganz gewöhnlicher Zug fuhr, waren alle meine Ängste besiegt. Müde, wankte ich in den Zug und ließ mich auf einen der Sitze fallen.

Ich genoss die Fahrt, es ging schnell und war entgegen meiner Vorstellungen recht angehnem. Beinahe bereute ich es den Zug verlassen zu müssen.

Von der U-Bahn Station war es nicht mehr allzu weit bis zum Haus. Und ich taumelte die letzten Meter mehr als ich ging.

Als ich das Haus erreichte klopfte ich vorsichtig an die Tür des Dienstboteneingangs. Der Diener James öffnete die Tür mit erschrockener, bleicher Miene. Und als er mich erkannte wirkte er noch ängstlicher. Ich erklärte ihm meine Situation, was ihn etwas zu beruhigen schien. Dann lies er mich endlich eintreten.

Aus der Dienstbotenstube hörte ich leises Gemurmel und das geklapper von Geschirr. Neugierig trat ich ein. Augenblicklich verstummten die Menschen. Es waren ausschließlich Männer und wenn ich in ihre dreckigen und ernsten Gesichter blickte überkam mich nur mitleid. "Sie gehören zu den ersten Männern, die aus dem Krieg zurückkehrten" erklärte mir die Köchin. "Durch ihre Verletzungen können sie nicht mehr arbeiten. Und sie würden wohl verhungern, wenn wir ihnen nicht aller zwei Tage ein einfaches Mahl servieren würden..."
Ich nickte und spürte, wie Tränen in meine Augen stiegen.

Lady Bentley von Highclere Castle Teil IWhere stories live. Discover now