36.Kapitel

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Die nächsten Tage und Wochen wurden eine Qual für mich. Da ich von da an wie eine Lady behandelt wurde, fehlte mir die Ablenkung, die ich früher immer gehabt hatte. Ich habe ja immer den ganzen Tag gearbeitet. Da blieb mir keine Zeit um zu grübeln.
Meine Tage verbrachte ich meist in der Gesellschaft der anderen Damen. Wir lasen gemeinsam und machten Handarbeiten. Und gelegentlich absolvierten wir den einen oder anderen Besuch im Dorf. Ich ging besonders häufig die alten und Kranken der Gemeinde besuchen während die Schwestern sich mit den Angesehenen und Reichen der Gegend trafen.

Jedesmal wenn ich jemanden besuchte versuchte ich mich so nützlich wie möglich zu machen, auch wenn dies nicht immer einfach war.

Besonders Anstandsbesuche bei anderen wohlhabenden Familien bereiteten mir Schwierigkeiten. Bei diesen Besuchen saß man meist nur mit den feinen Damen zusammen um sich zu unterhalten. Besonders langweilig waren die Besuche beim Pfarrer und dessen Frau. Der Pfarrer von Highclere war ein kleiner, rundlicher Mann mit einer viel zu großen Nase und etlichen Warzen im Gesicht. Aber das unangenehme an ihm war nicht sein äußerliches sondern sein Gerede. Sobald wir den Raum betreten hatten begann er uns Vorträge über das angemessene Verhalten der Frau zu halten. Wenn seine Frau dabei war, pflichtete sie ihm immer bei, so wie es sich als verheiratete Frau gehörte. Seine Vorträge richteten sich stets an die Misses Bentley und mich, aber niemals an die ehrwürdige Lady Bentley.

„Für mich wäre es schrecklich, wenn mir ein Mann vorschreiben würde, wie ich mich zu verhalten hätte" fügte Charlotte hinzu. Ich nickte, obwohl ich nicht genau verstand warum Charlotte so dachte. „Damals waren die Frauen noch nicht so emanzipiert wie heutzutage. Die Frauen spielten im Gesellschaftlichen Leben keine allzu große Rolle, denn es waren ihre Ehemänner um die es bei Empfängen oder anderen Veranstaltungen ging. Die Männer lenkten die Geschicke des Handels, der Industrie und des Landes. Die Frauen dagegen waren entweder zu Hause oder arbeiteten in einfachen Berufen. Denn niemand vertraute einer Frau eine Aufgabe zu, in der sie viel Verantwortung übernehmen müsste. Eine unverheiratete Frau hatte weniger Rechte als eine Verheiratete und über die verheirateten Frauen bestimmten stets ihre Ehemänner. Besonders für die jungen unverheirateten Frauen gab es sehr viele Anstandsregeln, die es zu beachten galt. Und wie du dir sicher denken kannst, war es in der gehobenen Gesellschaft wichtiger diese Regeln einzuhalten, als in den niederen Klassen..." „Was waren denn das für Regeln?" Fragte Charlotte, es machte mir Spaß in ihren Augen zu sehen, dass sie das was ich ihr eben erzählt hatte nicht so richtig glauben konnte. „Zum Beispiel durfte eine unverheiratete Frau nicht mit einem Junggesellen allein sein" begann ich zu erklären, „jedes Mal mussten sie von einer oder mehrerer Anstandsdamen begleitet werden." „Dann war es ja unschicklich, dass du dich heimlich mit George getroffen hast" unterbrach meine Enkelin mich aufgeregt. „Ja, da hast du vollkommen recht, aber damals gehörte ich noch einer anderen Klasse an und habe mich nicht so sehr um die Regeln der höheren Gesellschaft geschert. Außerdem war ich jung und dumm... und bis über beide Ohren verliebt." Charlotte lächelte und gab zu, dass sie froh war, in der heutigen Zeit zu leben. „Gab es eigentlich viele Paare, die wie ihr aus Liebe geheiratet haben?" „Nein, wir waren da eher die Ausnahme... die meisten Paare kannten sich kaum vor der Hochzeit. Außerdem waren die meisten Ehen von den Eltern arrangiert. Dabei ging es um Geld, Ansehen, Titel und Macht..."

Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und ließ meine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Wieder sah ich Georges wunderschönes Gesicht vor meinem inneren Auge. Für mich war er nie gealtert sondern immer der junge Mann geblieben, den ich kennen gelernt hatte. Mit ihm hatte ich unvorstellbares Glück erlebt. Denn wir hatten aus Liebe geheiratet, in unserer Ehe hatte er nie versucht über mich zu bestimmen und er ließ mir immer meine Freiheiten.

Mit meinen alten, faltigen Händen strich ich über ein beinahe genauso altes Foto. Es zeigte mich und George auf einem Konzert auf Highclere Castle. George trug seine schicke rote Uniform und ich ein blassrosa Kleid mit Spitze. Bei diesem Konzert sollten Spenden für die Kriegerwitwen gesammelt werden. Es war so ein wunderschöner Abend gewesen...

„Granny?" Was ist das für ein Bild?" „Das sind George und ich, auf einem wohltätigkeits Konzert... Das Geld was dort gesammelt wurde bekamen die Kriegerwitwen. Eigentlich war gar nicht geplant, dass George kam. Er hat uns sozusagen überrascht. Miss Violette und ich haben diese Veranstaltung gemeinsam Wochen im Voraus geplant. Zu dieser Veranstaltung luden wir alle wohlhabenderen Familien der Gegend ein. Einige würden übernachten, deshalb mussten die Gästezimmer hergerichtet werden, die Menüs zusammengestellt und die Dekoration ausgesucht werden. Am schwierigsten war es eine Band zu finden, die nicht sämtliche ihrer Mitglieder im Krieg verloren hatte.

Schon vor dem Mittagessen reisten die ersten Gäste an. Allerdings nicht mehr mit den früher üblichen Heerschaaren an Personal. Manche Herren kamen ohne Kammerdiener und einige Damen ohne Zofen. Der Krieg machte sich nicht nur beim Personalmangel bemerkbar, sondern auch bei den Menüs. Schon seit langer Zeit waren die Lebensmittel rationiert und ausgefallenere Sachen waren außer auf dem Schwarzmarkt kaum noch zu bekommen. Für die Köchin wurde es zunehmend schwerer Speisen zu kochen, die für die feinen Herrschaften angemessen waren. Auch die Dekoration war nicht mehr so ausgefallen wie früher. Denn auf Highclere gab es nur noch zwei sehr betagte Gärtner, die nur noch das nötigste Tun konnten um den Park nicht zu sehr verwildern zu lassen. Da blieb für die Rosengärten nicht mehr so viel Zeit. Außerdem wurde es Herbst, weshalb es noch schwieriger wurde ein paar schöne Blüten zu finden. Miss Violette und ich hatten daher beschlossen eine schlichte Dekoration aus Zweigen und Blättern zusammen zu stellen. Trotz all der Entbehrungen erstrahlte Highclere noch einmal in einem Glanz, den man schon lange nicht mehr gesehen hatte.

Ich hatte die Angewohnheit zwischen dem Mittagessen und dem Dinner einen ausgedehnten Spaziergang im Park zu machen und weder die Gäste noch das regnerische Herbstwetter konnten mich davon abhalten. Im Gegenteil, ich genoss es zu beobachten wie die roten und gelben Blätter von den Bäumen gerissen und davon getragen wurden. Bei mir trug ich den neusten Brief von George. Ich setzte mich auf eine der alten Bänke im Park, da diese unter einem Baum stand, war sie weitestgehend trocken. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in meinen Gedanken versunken dagesessen hatte. Nach einer Weile bemerkte ich zwei Reiter, die am Horizont auftauchten. Doch ich schenkte ihnen keine weitere Beachtung. Stattdessen beobachtete ich die Schwäne auf dem großen Teich, der in einer Senke vor mir lag.

Als George das letzte Mal Heimaturlaub hatte, haben wir zu zweit einen Nachmittag am Teich verbracht. Es war ein sehr warmer, sonniger Tag gewesen. Wir hatten ein Picknick veranstaltet und in der Sonne gelegen. Ich erzählte George von dem Teich, in dem ich in meiner Kindheit so oft gebadet hatte. Solche Freiheiten hatte er in seiner Kindheit nie erlebt. Lachend zogen wir unsere Schuhe aus und stiegen in das kalte, klare Wasser. Er hielt meine Hände in seinen und küsste mich sanft.

Eine Stimme riss mich aus meinen Träumereien. Erschrocken drehte ich mich um und konnte nicht fassen, wer da hinter mir stand. Es war George.


Lady Bentley von Highclere Castle Teil IWhere stories live. Discover now