H - Ich bin stolz auf dich

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[Harry]

Ich wusste nicht, wie lange ich in dem Flugzeug lag, welches mich entgegen meinem Willen zurück nach England brachte. Ich wollte nicht gehen, doch mir wurde keine Wahl gelassen. Sie hatten davon gesprochen, dass meine Versorgung nicht gewährleistet wäre. Was immer das heißen sollte. Ich wusste nicht, welche Verletzungen ich hatte, denn ich war erst wieder aufgewacht, als ich bereits im Flieger war. Entweder hatten sie also sehr schnell gehandelt, oder ich war lange ohne Bewusstsein gewesen. 

Ich nahm mir einen Moment, um Gott zu danken, dass ich noch am Leben war. Doch in meinem Kopf wusste ich, dass es nicht wegen Gott war. Es war dieser Mann gewesen. Er hatte mir geholfen und mich durch die Hölle geführt. Ich musste an meine Schwester denken. Wenn ich ihr davon erzählen würde, was würde sie wohl tun? Würde sie mich einweisen lassen? War ich im Krieg verrückt geworden? 
Als ich die Augen wieder öffnete, sah mich eine Sanitäterin an, die herzlich lächelte. "Es ist wirklich schön, dass Sie wieder bei Bewusstsein sind." sagte sie und ich nickte leicht. "Wann kommen wir an?" 
Sie sah auf die Uhr, dann wieder zu mir. "Eine gute halbe Stunde wird es noch dauern. Aber Sie werden abgeholt." erwiderte sie und lächelte dann. Ich nickte leicht. "Wer holt mich ab?" fragte ich sie nun, obwohl mir die Antwort schon klar war. 
"Ihre Schwester, Captain. Sie wurde informiert und wird sicherlich bereits auf sie warten." sagte die Sanitäterin nun lächelnd und ich schloss wieder die Augen, innerlich seufzte ich.

Gemma würde krank vor Sorge sein und mich vermutlich nie wieder aus den Augen lassen. In einer halben Stunde würde ich absolut keine Minute mehr für mich haben, so viel war sicher. Seit unsere Mom nicht mehr am Leben war, war Gemma völlig paranoid geworden und hatte vierundzwanzig Stunden am Tag Angst um ihre Lieben. Meiner Meinung nach brauchte sie Therapie, doch vermutlich würde sie eher mir das anraten. Vermutlich brauchte ich auch genau das, allerdings fühlte ich nichts. Ich hatte keine Angst, ich hatte keine Panikattacken. Ich fühlte mich leer, denn sie hatten mir mein Leben weggenommen. Mich zurück nach England zu bringen, fühlte sich an, als würde man mir mein Leben wegnehmen und mich mit nichts anderem zurücklassen als dem Gedanken, dass ich mehr Menschen helfen könnte, wenn ich dort bleiben könnte. Was zum Teufel sollte ich jetzt tun, wo ich wieder zu Hause war? Kekse backen und im Park spazieren gehen? Meine Füße still halten, wie es ein guter Veteran tat? Das war nicht ich, und ich wusste nicht, was ich ohne einen Auftrag in meinem Leben tun sollte.

Als wir landeten, bekam ich wieder Schmerzen und legte die Hand auf meinen Bauch. Ich sah die Sanitäterin an, die angeschnallt neben mir saß und mich immer wieder beruhigend ansah. "Was ist mit mir passiert?" fragte ich leise, ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort hören wollte. "Sie hatten einige innere Verletzungen aufgrund des Schusses, den sie abbekommen haben, unter anderem einen Milzriss. Ihr Arm ist ebenso verwundet. Sie wurden notdürftig operiert im Lager. Die zweite OP ist noch für heute angesetzt." sprach sie und ich riss die Augen auf. Es schien also doch schlimm gewesen zu sein.
Der Mann in meinen Visionen hatte gesagt, ich könnte mich nun ausruhen. Hatte er das damit gemeint? Die Genesungszeit? Ich bekam Kopfschmerzen von meinen eigenen Gedanken und kniff die Augen zusammen. Was auch immer los mit mir war, es fühlte sich beschissen an und alles, woran ich denken konnte, waren die blauen Augen und das wunderschöne Lächeln dieses Geistes. 

Es verging noch eine ganze Weile, dann wurde ich aus dem Flugzeug über die Rollbahn in den Hangar transportiert, wo vermutlich bereits ein Krankenwagen auf mich wartete. 
"Harry!" rief jemand und ich öffnete sofort die Augen, blickte in das von Tränen überströmte Gesicht meiner Schwester, die sich hektisch über ihre Augen wischte und dann über meine Wange streichelte. "Gott sei Dank lebst du..." hauchte sie und küsste meine Stirn. "Wir haben es in den Nachrichten gehört, ich bin fast ausgeflippt vor Sorge. Dann kam der Anruf! Harry, ich hab mir solche Sorgen gemacht! Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?" 
Sie plapperte ohne Punkt und Komma, und ich nahm ihre Hand und drückte sie leicht, sah sie erschöpft an. "Erstmal atmen, Gems." sagte ich. "Es ist auszuhalten. Ich vermute, ich bin vollgepumpt mit Schmerzmitteln." 
Sie nickte und küsste noch einmal meine Stirn. "Sie bringen dich jetzt ins Krankenhaus, Harry, okay? Du wirst noch einmal operiert, heute Abend hast du dann alles überstanden." sprach sie sanft und schniefte leise. "Du bist dann  noch da?" fragte ich sie, woraufhin Gemma sofort nickte. Ich lächelte sie müde an, dann schloss ich wieder die Augen. "Das ist gut." flüsterte ich.


***


Irgendwann wachte ich wieder auf, es war bereits dunkel draußen und im Zimmer waren die Lichter gelöscht. Es musste spät abends sein. Ich sah mich einen Moment um, als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ich war in einem Krankenhauszimmer, ganz eindeutig. Vermutlich war ich bereits operiert worden, ich hatte nichts mitbekommen, auch nicht von der Einlieferung. Mein Körper war erschöpft, mein Geist jedoch hellwach. Zu meiner rechten Seite lag Gemma auf einem der Sessel, es sah unheimlich unbequem aus, weshalb ich sie weckte. 
Meine Schwester sprang sofort auf und eilte zu mir, sah mich prüfend an, als sie ein Licht angeschaltet hatte. Ihre Augen voller Besorgnis und Furcht. 
"Was ist los? Brauchst du was?" fragte sie alarmiert und ich schüttelte den Kopf. "Gems, du solltest heim gehen. Der Sessel ist doch wirklich unbequem." sagte ich, doch Gemma schüttelte sofort den Kopf. "Ich lasse dich nicht allein." antwortete sie, wirkte dabei fast schon trotzig. 

Seufzend schüttelte ich den Kopf und sah sie sanft an. "Mir passiert nichts hier, okay? Du kannst morgen früh wiederkommen. Es geht mir gut." versicherte ich ihr und sie seufzte ebenso, zog dabei das gleiche Gesicht wie ich es auch immer tat, dann nickte sie schließlich. Offensichtlich war sie nicht zufrieden damit, dass ich sie rauswarf, doch sie schien selbst zu merken, dass es keinen Sinn hatte, hier auf einem Sessel neben mir die Nacht zu verbringen. Ich war kein Kind mehr, ich konnte auf mich aufpassen. "Fein, ich fahre. Aber ich bin morgen früh sofort wieder zurück." Sie sah mich beinahe schon warnend an. 
"Kann's kaum erwarten." murmelte ich und als ich ihren empörten Gesichtsausdruck sah, musste ich schmunzeln. "Hast mich vermisst, hm?" 
Sie musste lachen und schüttelte den Kopf. "Du bist ein Idiot, Harry. Schlaf gut, ja? Ruf mich an, wenn was ist." Sie küsste meine Wange, dann verschwand sie und ich hatte endlich Ruhe. 

Zufrieden trank ich einen Schluck Wasser, dann schaltete ich das Licht wieder aus, bettete den Kopf zurück auf das Kissen und schloss die Augen. Und schon waren sie wieder da, die blauen Augen. Stirnrunzelnd machte ich meine Augen sofort wieder auf und sah mich im Raum um. Es war niemand da und ich hielt mich weiterhin für völlig verrückt. Ich versuchte zu schlafen, driftete irgendwann in einen Halbschlaf ab. Und da war sie. Die vertraute Stimme, die mir zuflüsterte. "Du bist so stark gewesen, ich bin stolz auf dich. Du musst dich jetzt ausruhen, du musst dich erholen."

Ich schnappte nach Luft, driftete aber noch mehr in den Schlaf weg, eindeutig war ich eingeschlafen und träumte. Ich konnte wieder sein Gesicht sehen, das mich anlächelte. "Das kleine Mädchen lebt wegen dir. Ist dir das klar? Du hast ihr das Leben gerettet."
"Nein, das warst du." flüsterte ich, und dann hörte ich sein Lachen, laut und deutlich, als stünde er direkt neben mir. Es war so glockenklar, etwas Schöneres hatte ich bis jetzt nie gehört. "Wir haben es gemeinsam getan. Du musst jetzt schlafen, deine Wunden werden sonst nicht heilen."
Wieder fühlte es sich an, als wäre ich verrückt, aber es war doch nur ein Traum, oder? "Wer bist du?" fragte ich leise. "Das kann ich dir nicht sagen. Du musst kommen und mich finden." Ich runzelte die Stirn, verwirrt von seinen Worten. "Aber wie soll ich das tun?" fragte ich ihn. "Das weiß ich nicht, das musst du selbst herausfinden." flüsterte er mir zu.
Dann verschwand seine Stimme und das Gefühl seiner Präsenz wieder, ließ mich weiter schlafen, diesmal traumlos bis zum nächsten Morgen. 


Als ich aufwachte, fühlte ich mich wie zerschmettert. Ein Blick nach draußen verriet mir, dass die Sonne schien, ich konnte Vogelgezwitscher hören. Es fühlte sich seltsam friedlich an. Ich hatte zum ersten Mal seit Monaten die Gewissheit, dass heute keine Bomben über mir einschlagen würden. Dass ich in Sicherheit war. Seufzend schloss ich die Augen und atmete einen Moment tief ein und aus. Meine Gedanken glitten zu dem Traum zurück. Ich musste Gemma davon erzählen. Sie musste mir helfen, herauszufinden, was mit mir nicht stimmte. 


Fateful Dreams | Larry StylinsonWhere stories live. Discover now