2. Alexy

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Kopfschüttelnd sah ich Kentin hinterher.
Wieder hatte er mich weggeschubst und beleidigt und so getan, als würden wir uns nicht kennen.
Ich hatte nichts gemacht, ich stand nur hinter ihm und habe auf den verflixten Vertretungsplan geguckt.
Keine Ahnung, warum er sich in letzter Zeit mir gegenüber so assi verhielt.
Er kam erst vor ein paar Wochen von der Militärschule zurück und ich dachte eigentlich, wir wären Freunde geworden, bevor er die Amoris verlassen hatte. Wir hatten nicht viel Zeit, einander kennenzulernen, aber wir hatten einen ähnlichen Humor und viel Spaß in den Kunststunden.
Alle hackten auf ihm herum wegen seiner Brille und weil er relativ klein war für sein Alter, aber ich hatte das Gefühl, ihn zu verstehen.
Seit ich öffentlich gemacht hatte, dass ich auf Jungs stand, war auch ich eines der begehrtesten Mobbingopfer. Vielleicht führte uns das zusammen.
Aber davon war nichts mehr zu spüren. Seit er wieder da war, trug er eine Miene der Arroganz in der Gegend spazieren, er beleidigte andere und verhielt sich wie die, die ihn damals fertigmachten.
Und das nur, weil er jetzt wesentlich größer und hübscher war.
Ich hatte allerdings das Gefühl, dass er das machte, um selber nicht verletzt zu werden. Er ließ ja niemanden an sich heran und außer MariJo, mit der ich auch befreundet war, hatte er niemanden und wollte es wohl auch nicht.
Es war schade, wirklich. Denn ich mochte ihn. Und wenn ich ganz ehrlich war, gefiel er mir auch ziemlich.
Doch er ließ keine Gelegenheit aus, mich als „Schwuchtel" vor anderen zu beleidigen und deutlich zu machen, wie unangenehm ihm meine Nähe war.  Als könnte meine Homosexualität auf ihn abfärben.
Ich wusste allerdings auch, dass Männer, die so über Schwule hetzten und offensichtlich angeekelt waren, insgeheim eher homoerotische Fantasien hatten als Männer, die tolerant waren.
Ich seufzte und folgte ihm in den Klassenraum.
Biologie.
Mein Lieblingsfach. Mit ganz viel Sarkasmus gesprochen.
Unser Lehrer, der alte Homophob, wurde auch nicht müde, zu betonen, dass Homosexualität wider die Natur und dass ich eine genetische Sackgasse war. Aber ich hatte mich daran gewöhnt und achtete schon gar nicht mehr darauf.
Solche Leute lernten einfach nicht, dass man das weder steuern noch verhindern konnte und dass man nur glücklich sein konnte, wenn man zu sich stand.
Mein Blick wanderte ein paar Reihen nach hinten. Kentin saß dort, die Hände in die Augen gedrückt. Das tat er oft, war mir aufgefallen.
Ich fragte mich, ob er Schmerzen wegdrücken wollte oder es einfach eine nervöse Angewohnheit war. Ich schmunzelte. Er war schon ein toller Typ.
Ich mochte ihn schon mit seiner Brille, weil er so ehrlich und natürlich war. Aber klar gefiel er mir jetzt noch besser, denn ein freier Blick in seine türkisen Augen war schon etwas anderes.
Besonders stand ich aber auf seine sinnlichen Lippen.
Ich erwischte mich, dass ich mal wieder träumend da saß und mir vorstellte, eben diese Lippen zu küssen, diese Zunge mit meiner zu berühren und ihm ein Seufzen zu entlocken.
Mit einem Knurren drehte ich mich zur Tafel um und krallte meine Nägel in die Handballen.
HÖR AUF DAMIT!
Es hatte eh keinen Sinn, was sollte ich schon tun?
Er mochte Mädchen und die mochten ihn, obwohl er sich wie ein Wichser benahm.
Und er war verliebt in MariJo. Sie hatte mir das mal erzählt und dass er nur auf die Amoris kam, weil sie dort war. Was hatte ich da schon zu bieten?
Es war mein Fluch, auf Jungs zu stehen, die definitiv nicht schwul waren. Ich genoß das positive Kribbeln, aber litt immer an den Qualen der Sehnsucht.
Ich stellte meine Ohren auf Durchzug, als mein Bruder Armin sich neben mir hinsetzte und der bekloppte Lehrer in den Raum kam.
Der Stoff war gähnend langweilig und ich schrieb mit, damit mir die Augen nicht zufielen.
Armin daddelte heimlich unter der Bank und alle anderen hingen irgendwie durch.
Ich erwischte mich, als ich wieder nach hinten zu Kentin sah.
Er sah genauso müde aus und sein Mund war leicht geöffnet. MariJo schien auf ihren Handgelenken zu schlafen.
„Alexander, ich würde es begrüßen, wenn Sie dem Unterricht folgen würden, anstatt hier irgendwelche Jungen anzuschmachten."
Die Stimme meines Lehrers drang in mein müdigkeitsgeschädigtes Gehirn und ich drehte mich zu ihm um.
„Wenn Ihr Unterricht spannender wäre, müsste ich mich nicht anderweitig beschäftigen." murmelte ich, merkte aber, dass meine Wangen rot wurden. Kentins Blick lag direkt auf mir und ich wäre gern im Boden versunken.
Dieser dämliche Sack von Lehrer musste immer solche dummen Sachen sagen!
„Noch ein solcher Spruch und Sie können den Rest der Stunde vor der Tür verbringen, Herr Bergmann!" schnauzte der Alte und ich machte nur eine abwehrende Handbewegung.
„Schon gut, sorry."
Mit einem fast schon hasserfüllten Blick wandte sich der Lehrer ab und ich ließ meinen Kopf auf die Bank fallen.
Ich wollte nur noch nach Hause. Mein Herz tat weh und die Sehnsucht quälte mich.
„Gott, lass mich sterben..." murmelte ich leise und ich spürte Armins Hand einen Augenblick auf meiner Schulter.
Er war der einzige, der wusste, was in mir vorging. Auch wenn er immer sagte, er wollte nichts wissen von meinem Schwulenkram.
Ich konnte verstehen, dass ein Junge, der auf Mädchen stand, sich nur ungern vorstellte, wie ein homosexueller Junge vorhatte, Geschlechtsverkehr zu praktizieren und einen Jungen zu berühren und zu küssen, aber wenn ich jemanden brauchte, der mir zuhörte, schaffte es mein Videogame-süchtiger Bruder sogar, seine PSP zur Seite zu legen.
Und ich hatte ihm an einem Abend, an dem es mir schlecht ging, verraten, dass da ein Gefühl in mir war, dass sich verstärkte, wann immer ich Kentin sah und dass es mir wehtat, wenn er mich „Schwuchtel" nannte.
Etwas, dass er früher nie gemacht hatte, auch als er es schon wusste. Ich war immer überzeugt, dass es ihn nicht störte.
Die Zeit in der Militärschule hatte den Jungen, den ich mochte, verändert und das nicht nur zu seinem Vorteil. Ich mochte sein Aussehen, aber ich hätte es jederzeit rückgängig gemacht und hätte eine Welt gegeben, den Jungen zurückzukriegen, den ich vor einem Jahr kennengelernt hatte.
Mit müden Augen verfolgte ich den Unterricht und wischte mir immer mal wieder über die Lider. Meine Augen tränten und ich wusste nicht, ob es aus Müdigkeit oder einem Anflug von Depression war.
Depressiv war ich öfter, seit ich mir selber eingestanden hatte, Jungen zu lieben. Ich wusste es eigentlich schon immer, aber dann in den Spiegel zu sehen und sich selbst zu sagen: „Ich bin schwul!", das war dann doch etwas anderes.
Ich hatte eigentlich keine Probleme damit und die Erfahrungen, die ich bereits machen durfte, bestätigten meine Gefühle nur. Es war schön und ich hatte niemals auch nur den Hauch eines Verlangens, mal ein Mädchen zu küssen oder mehr zu haben.
Aber der einzige offizielle Schwule an der Schule zu sein bedeutete auch immer, sich in Jungen zu vergucken, die hetero waren und einem auch ins Gesicht sagten, dass sie einen eklig fanden und dass man sich verziehen sollte.
Das tat weh und mein Herz hatte noch keine sehr harte Schale angenommen.
Ich war immer ein Typ, der es hasste, schlecht drauf zu sein, denn ich lachte lieber, aber es fiel mir trotzdem leicht, zu heulen.
Immer, wenn ich allein unter meiner Bettdecke lag... oder unter der Dusche, wo niemand meine Tränen sah.
Als es klingelte, packten alle zügig zusammen. Es war die letzte Stunde des Tages und alle wollten nur noch weg.
„Bergmann, ich schreibe Ihnen einen Eintrag ins Klassenbuch für den unverschämten Kommentar!" meckerte der Bio-Lehrer und funkelte mich mal wieder an, als hätte ich ihm persönlich etwas Schreckliches angetan.
Armin runzelte die Stirn und ich konnte sehen, dass MariJo den Kopf schüttelte. Kentins Gesicht war ausdruckslos und er schien es zu vermeiden, mich direkt anzusehen.
Als ich das bemerkte, schluckte ich schwer und schulterte meinen Rucksack.
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können, wenn es Ihnen Spaß macht, mich wegen meiner Sexualität zu diskriminieren!"
Ich riss die Tür auf, die irgendwer hinter sich geschlossen hatte und ließ sie laut zufallen. Es war mir egal, dass der Alte mir hinterher schrie.

„Hey, ist alles in Ordnung, Alex?"
Armin gesellte sich an den Fahrradunterstand, wo ich auf ihn wartete.
Ich zwang mich zu einem fröhlichen Lachen, obwohl mir nicht danach zumute war.
„Na klar... ich mach mir doch keine Gedanken, was der Alte denkt!"
Mein Zwillingsbruder sah mich mit seinen blauen Augen an und ich konnte sehen, dass er meiner Maske nicht traute.
Natürlich, er war wie ich. Mein Zwilling. Der zweite Teil meiner Seele. Er wusste, wie es mir ging, egal, wie sehr ich meine verletzte Seele hinter einem Lachen versteckte.
„Lass gut sein, Armin. Ich will nicht darüber reden. Weder über den dämlichen Bio-Heini noch über Kentin. Lass uns einfach nach Hause fahren. Mama wollte Rote Grütze machen."
Er nickte nur.
Ich wollte nicht mal nachdenken über die verdammten Gefühle und die Sehnsucht nach diesem dämlichen Militär-Heini, der mich immer wieder beleidigte, aber von dem ich Nacht für Nacht träumte.
Träume, die dazu führten, dass ich meine Schlafsachen am Morgen in die Wäsche schmeißen konnte.
Ich seufzte und stieg auf mein Fahrrad.

Lieb' mich nicht! [AS]Where stories live. Discover now