22. Alexy

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Ich erschrak und zuckte zusammen, als Kentins Vater ihm laut klatschend eine Ohrfeige verpasste. Mein Vater sah aus, als wäre er auf dem Sprung, um dazwischen zu gehen, aber Kentin lachte nur und rechnete mit seinem alten Herrn ab. Ich machte mich unwillkürlich steif, als er mich an sich zog und küsste. Weil ich das Gefühl seiner Lippen aber einfach zu sehr liebte, schloss ich ganz unbewusst auch die Augen.
Ich hatte rote Wangen, denn seine Worte waren so wundervoll. 

"Jetzt ist es Zeit, an mich zu denken und das zu tun, was für mich das Beste ist. Und das Beste ist Alexy!"

Es betrübte mich etwas, dass sein Vater ihn im Grunde einfach so hinauswarf und es ihm nicht einmal leidzutun schien. Selbst Kentins Mutter blieb die ganze Zeit still, sagte nichts, hielt ihren Sohn nicht auf, tat nichts – wie schon das erste Mal, als ich dabei war, wie Vater und Sohn aneinander gerieten. Ich wurde nicht schlau aus dieser Frau.
„Fertig, Kentin? Dann lasst uns fahren. Ich muss an die frische Luft!", brummte mein Vater mit einem letzten Blick auf Kentins alten Herrn, der finster dreinblickend stehen blieb und kein Wort des Abschieds für Ken übrig hatte.
Er seufzte, als er die Tür hinter sich zuzog, seinen Schlüssel einsteckte und seinen Armeesack über die Schulter warf. Dann lächelte er mich an und wir machten uns auf den Weg zu Papas Wagen, der noch immer am Pub stand. Ich brummte, denn es regnete noch immer.
„Das ist ja fast gut gelaufen, würde ich sagen.", sagte mein Vater mit einem leichten Schmunzeln, als er das Auto aufschloss und wir die Taschen in den Kofferraum warfen.
„Bis auf das Kentin von seinem Alten rausgeschmissen wurde?", fragte ich ungläubig und mein Vater lachte. Kentin lächelte irgendwie und ich verstand nicht genau, was gerade los war.
„Sieh es mal so, Alexy... du hast deinen Freund nun zuhause. Ist das nichts?"
Ich bekam rote Wangen. Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Ich hatte viel komplizierter gedacht, was denn nun aus ihm werden würde und was wäre, wenn das Jugendamt verlangen würde, dass Kentin zu seinen Eltern zurück müsste. Dass er nun bei uns im Haus leben würde und ich nachts zu ihm gehen konnte – daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Er scheinbar schon, denn er lächelte und zwinkerte mir frech zu.
Auf der Fahrt nach Hause blickte er allerdings stumm aus dem Fenster und sagte eine Weile nichts.
„Es tut mir leid, dass Sie jetzt die Unannehmlichkeiten mit mir haben. Ich will nicht zur Last fallen.", murmelte er leise und mein Vater blickte durch den Rückspiegel nach hinten.
„Mach dir da mal keine Gedanken. Ein Esser mehr macht den Kohl nicht fett. Es wird sich schon was finden, wenn dein Vater wirklich so stur bleibt, dass er dich nicht mehr zuhause haben und dich auch nicht unterstützen will. Es gibt viele Möglichkeiten für Kids in deiner Situation. Betreutes Wohnen oder so. Es wird schon. Wenn das Jugendamt grünes Licht gibt, bleibst du halt einfach bei uns."
Ein kleines Lächeln verschönerte Kentins besorgtes Gesicht und ich lehnte mich mit der Wange an seine Schulter.
„Darf ich Sie was fragen?", setzte er wieder an und mein Vater machte ein zustimmendes Geräusch.
„Äh... Sie... Sie haben gesagt, Sie sind nicht Alexys und Armins Vater... äh... haben Sie das nur gesagt, um meinem Vater den Wind aus den Segeln zu nehmen, oder...?"
Ich und mein Vater fingen an zu lachen, was Kentin überrascht gucken ließ. Er wandte den Kopf von meinem Vater zu mir und seine Augen wurden immer größer.
„Was habe ich verpasst?"
„Nichts. Du hast nichts verpasst, denn das stimmt. Meine Frau und ich haben die Jungs damals direkt nach ihrer Geburt adoptiert. Die leibliche Mutter war gerade 16 und konnte sie nicht versorgen und so kamen sie eine Woche nach der Geburt zu uns. Ich hätte angenommen, dass Alex dir das schon mal erzählt hat."
Kentin schüttelte den Kopf und ich lachte auf. Ich hatte wirklich nicht daran gedacht, weil mir das auch einfach nicht wichtig erschien. Meine Eltern waren meine Eltern, ob sie uns nun gezeugt hatten oder nicht. Denn immerhin hatten sie uns mit viel Liebe und Verständnis großgezogen.
„Ist ja auch egal. Jetzt weißt du es.", kicherte ich und kuschelte mich wieder an seine Schulter.
Es dauerte noch einige Minuten, bis mein Vater den Wagen in unsere Einfahrt einlenkte und wir in das noch immer anhaltende Mistwetter ausstiegen. Mein Vater nahm eine von Kentins Taschen und öffnete die Haustür. Meine Mutter hielt ihren Kopf aus der Küchentür und machte ein überraschtes Geräusch.
„Nanu? Was ist denn passiert?"
„Ah, Kentins Vater hat ihn nach seinem Outing rausgeschmissen.", brummte mein Vater, stellte seine Tasche ab und ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. Meine Mutter machte ein bestürztes Geräusch und hieß Kentin, der rote Wangen bekam, bei uns willkommen.
„Alexy, gehst du dann das Bett im Gästezimmer beziehen, damit er nachher einen Schlafplatz hat?"
Ich nickte, nahm Kentins Tasche und zog ihn an der Hand hinter mir her.
„Oh Gott, ist mir das peinlich. Ich komm mir so extrem lästig vor hier.", seufzte Kentin und ließ sich in dem Gästezimmer auf das Bett sinken. Ich lachte, stellte mich vor ihn und hob seinen Kopf an.
„Das ist doch Unsinn. Du bist hier willkommen, hast du das denn noch nicht verstanden? Und ich freu mich, dass du hier bist. So kann ich dich sehen, wann ich will." Um meine Worte zu verstärken, schob ich mich auf seine Knie und drückte meine Lippen auf seine. Er schien nicht recht in Stimmung zu sein, gab aber schließlich nach und erwiderte meinen Kuss. Wir ließen uns auf dem Bett nach hinten sinken und knutschten bestimmt eine geschlagene Viertelstunde. Kentin entspannte sich zusehends und seufzte schließlich irgendwann mit dem Blick an die Decke.
„Ich hab damit gerechnet, dass er mich umbringt. Dass er seinen Stock auf meinem Kopf kaputtschlägt oder irgendwie sowas. Ich glaube, dein Vater hat Recht. Es ist fast gut gelaufen. Ok, wenn es danach geht, bin ich zuhause nicht mehr willkommen, aber ich lebe noch, oder?"
Ich nickte und schmiegte meine Wange an seine Schulter.
„Und er ist dir nicht zu nahe gekommen, das ist wichtig...", murmelte Kentin weiter und klang dabei ziemlich müde. Ich stemmte mich hoch und sah, dass er bereits halb eingeschlafen war. Das Adrenalin durch die Angst und die Sorge vor seinem Vater war nun scheinbar gänzlich abgebaut und nun forderte sein Körper den Tribut und wollte Ruhe haben. Ich bat ihn, sich einen Moment in den Sessel zu setzen, bezog schnell das Bett und zog ihn dann in die frischen Laken. Er strampelte seine Schuhe von den Füßen und nachdem wir noch einige Minuten geschmust hatten, war er tatsächlich eingeschlafen.
Ich ließ ihn allein und kehrte zu meinen Eltern in die Küche zurück.
„Nanu? Wo hast du denn Kentin gelassen?" Meine Mutter schnippelte Gemüse und bereitete scheinbar einen Eintopf vor.
„Er ist eingeschlafen und völlig fertig."
Meine Eltern nickten und Armin trottete ebenso müde in die Küche. Er guckte in den Topf, verzog den Mund, weil auch Brokkoli und Erbsen darin waren und warf sich auf einen Stuhl.
„Kentin ist da, habe ich das richtig verstanden?"
„Ja. Er wohnt vorerst hier, bis mit dem Jugendamt alles geklärt ist. Sein Vater hat ihn rausgeworfen."
„Ah fuck... dann hat er das Gästezimmer? Sollte das nicht Alexys neues Zimmer werden? Heißt das, wir teilen uns doch noch eine Weile das Zimmer?"
Meine Mutter lachte vor sich hin und mein Vater hantierte mit seinem Telefon herum, um im Jugendamt irgendjemanden zu erreichen. Ich tätschelte Armins Hand.
„Mach dir keine Sorgen... ich glaube, ich werde viele Nächte bei Kentin verbringen.", kicherte ich und Armin zog seine Hand weg.
„Mama, kannst du das verbieten? Sonst kommen wir alle nicht mehr zum Schlafen, wenn die beiden zugange sind!"
Meine Mutter lachte nun richtig und schüttelte den Kopf.
„Armin, was soll ich gegen junge Liebe machen? Du wirst dein eigenes Zimmer haben, mach dir mal keine Sorgen. Und unser Haus ist gut isoliert. Oder habt ihr beiden schon jemals gehört, was bei mir und eurem Vater im Schlafzimmer abgeht?"
„BAH!!", machten Armin und ich wie aus einem Mund und meine Mutter lachte einmal mehr, während mein Vater noch immer durch die Gegend rannte und vor sich hin schimpfte.
„Gah, es ist noch nicht mal ganz 16 Uhr und im Jugendamt ist schon niemand mehr da. Frechheit. Gut, dann versuche ich es morgen nochmal. Für heute haben wir jedenfalls Ruhe."
Wir hockten alle beisammen und wurden von meiner Mutter eingespannt, Gemüse zu schnippeln, als ein leises Räuspern uns alle aufblicken ließ.
„Ah Kentin... gut, dass du wieder auf bist, ich brauch noch einen, der die Karotten würfelt." Meine Mutter drückte ihm eine Schüssel und ein Messer in die Hand.
„Ich hoffe, du magst Gemüseeintopf mit Schweinefleisch?!"
Kentin nickte mit einem Lächeln, setzte sich neben mich und begann geschickt, das orangene Gemüse in kleine Würfel zu schneiden. Er war wesentlich schneller als ich und ich fragte mich, ob er bei seinen Eltern seiner Mutter auch öfter zur Hand ging.
Es machte Spaß, in der Familie zusammenzusitzen und alle gemeinsam für das Abendessen zu arbeiten. Als die Schüssel mit dem Gemüse sich füllte und alle zur Genüge daran genascht hatten, scheuchte meine Mutter uns alle hinaus und ich zog Kentin mit in mein und Armins Zimmer. Ich wollte ihm das Haus zeigen, damit er sich zurecht fand. Er stand in der Mitte unseres Zimmers und bewunderte unser cooles Stockbett, welches mein Vater einst für uns gebaut hatte.
„Das ist ja cool. Und ein tolles Zimmer. So ordentlich. Ich hätte gedacht, es ist chaotisch bei euch."
Ich lachte und schüttelte den Kopf.
„Nein. Armin und ich können es nicht ab, wenn es zu unordentlich ist. Armin schimpft dann immer, weil er nichts findet und ich bin unruhig genug, da brauche ich Ordnung um mich herum."
Kentin nickte. Ich zeigte ihm die Badezimmer, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern ließ ich aus und ich zeigte ihm die hintere Terrasse, die in den Garten führte. Es regnete noch immer, was zu Kentins Stimmung passte. Auch wenn er gelacht hatte mit meiner Familie, hatte ich doch das Gefühl, dass er sich nicht wohl fühlte.
Scheinbar hatte ihm die Tatsache, dass sein Vater ihn nicht mehr sehen wollte, doch mehr zugesetzt als er zugeben wollte, egal, wie nett wir ihn aufnahmen. Ich konnte das irgendwie verstehen. Immerhin waren wir nicht seine Familie. Er kannte mich und Armin, aber meine Eltern waren Wildfremde für ihn und er musste sich zwangsläufig wie ein Schmarotzer vorkommen.
„Kentin... ich bin froh, dass du da bist.", murmelte ich am Stoff seines Pullis, als ich ihn von hinten umarmte. Er legte seine Hand auf meine und ich hörte ihn tief durchatmen.
„Hast du was?"
„Ich merke immer mehr, was für eine tolle Familie du hast und wie schrecklich meine im Gegenzug ist. Sowas wie eben haben wir nie getan. Einfach zusammengesessen und etwas gemeinsam gemacht. Geschweige denn gelacht. Solche Albernheiten wären bei meinem Vater nie drin gewesen. Kartoffeln schälen galt bei ihm als Strafe."
„Jetzt bist du hier und ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist, aber wir mögen dich alle und du bist wirklich willkommen."
Kentin drehte sich zu mir um und küsste meine Stirn.
„Danke, Alexy. Für alles."

Lieb' mich nicht! [AS]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt