14. Alexy

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Das Wetter frischte auf, als Kentin neben mir herging, sein Fahrrad schiebend.
Mein Körper schmerzte noch immer von den Prügeleien und es würde sicher noch Tage dauern, bis all die Blessuren verschwunden sein würden.
Ich hatte Glück gehabt, was mein Gesicht anging. Ich hatte ein paar Kratzer an der Wange, war aber um ein Veilchen drumherum gekommen.
„Was sagst du deinen Eltern? Wir haben gestern vergessen, Bescheid zu sagen, dass du nicht nach Hause kommst."
„Ich bin schon öfter mal nachts nicht nach Hause gekommen. Meine Eltern wollen nicht immer wissen, was ich so treibe, wenn ich mit Jungs unterwegs bin, solange ich Gummis benutze."
Kentin machte ein schnaubendes Geräusch und verzog den Mund. Als würde er den Gedanken, dass ich mit anderen Jungen außer ihm geschlafen hatte, ablehnen.
Dabei war es erst mit ihm letzte Nacht das erste Mal wirklich schön für mich. Jede andere Erfahrung, die ich vor ihm gemacht hatte, war ok, nicht schlecht, vielleicht auch geil gewesen, aber schön und erfüllend wurde es erst durch die Gefühle, die ich für Kentin hatte.
„Stört dich das? Dass ich andere Erfahrungen gemacht habe und du nicht?"
Er schüttelte den Kopf und sah mich von der Seite aus an.
„Nein. Ich wusste ja, dass es so ist. Es ist egal. Nur... binde mir das nicht auf die Nase, ok? Ich... ich hab immer noch nicht ganz überrissen, dass das echt passiert ist..."
Ich legte meine Hand auf seine und lächelte ihn an.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass er zurückweichen und die Berührung nicht zulassen würde, doch scheinbar hatte sich seit letzter Nacht etwas verändert. Denn statt die Hand zurückzuziehen, lächelte er mich an.
Und mir wurde warm.
Seine türkisen Augen waren so klar und strahlend, dass es mich an weiße Strände und Palmen erinnerte.
„Gott... ich bin verloren..." purzelten die Worte aus mir heraus, bevor ich es aufhalten konnte.
„Was meinst du?"
„Ich bin echt mega verknallt..."
Er lachte und zog plötzlich die Schultern hoch, als ein kräftiger Windstoß die ersten feinen Regentropfen mitbrachte.
„Oh Mann... so ein Mist. Lass uns beeilen, sonst sind wir gleich durchnässt."
Zum Glück war es nicht mehr sehr weit und gerade in dem Moment, als wir in den Garten meines Elternhauses kamen und unter der Terrasse standen, brach der Himmel auf und es begann, wie aus Eimern zu schütten.
Außer Puste sahen wir uns an und begannen schließlich zu lachen.
„Hm... das Auto ist nicht da. Meine Eltern sind bestimmt zum Einkaufen. Und Armin hängt an der Konsole, wenn er zuhause ist."
Kentin ließ sich auf die Hollywoodschaukel sinken und sah sich in unserem wilden Garten um.
„Möchtest du reinkommen und was trinken oder wollen wir hier draußen warten, bis es aufhört, damit du wieder nach Hause kannst?"
„Es ist nicht so, als würde ich dich unbedingt loswerden wollen." Sein Blick lag auf mir und sein Lächeln war sanft.
Er streckte die Hand aus und mein Herz hüpfte, als ich zu ihm ging. Er umfasste mein Handgelenk und zog mich auf das Polster der Schaukel. Durch den Schwung landete ich auf seinem Schoß, was ihn zum Lachen brachte und mich zusammenzucken ließ.
Ich würde die Prügel noch tagelang spüren!
„Alles klar?" Seine Stimme klang besorgt und er legte seine Hände auf meine Hüften.
„J-Ja... es... mir tut immer noch alles weh."
Er zog mich an sich und ich legte meine Stirn auf seine Schulter.
„Ich hab fast ein bisschen Angst davor, Montag wieder in die Schule zu gehen. Die gehen alle in die Abi-Klasse. Was, wenn das nochmal passiert?"
Kentin richtete mich auf und sah mir in die Augen.
„Nichts passiert nochmal. Am Montag gehst du zur Direktorin und meldest den Vorfall!"
„Ich kann nicht... ich hab mich nicht medizinisch untersuchen lassen."
„Du kannst das trotzdem melden. Du hast mit mir schließlich einen Zeugen."
Ich sah ihn nicht an.
„Und wenn du auch Ärger bekommst? Schließlich hast du dich auch mit denen geprügelt."
„Das ist mir doch egal!"
Eine Wärme breitete sich in mir aus, ein Glücksgefühl. Er wollte mir zur Seite stehen.
„Danke... ich habe trotzdem Angst... Ich hab mich noch nie so unwohl gefühlt."
Er sah mir schweigend ins Gesicht.
Mit sanften Fingern strich er mir die Haare aus der Stirn.
„Hör auf, dir Sorgen zu machen. Die Direktorin möchte sowas wissen. Und ich bin ja da, um auf dich aufzupassen. Aber gut, wenn du nichts sagen willst..."
Ich schüttelte den Kopf.
Vielleicht war es feige von mir, aber ich wollte nicht zur Direktorin rennen, die Jungs bei ihr anzeigen und mir damit die letzten Monate bis zu deren Abschluss zur Hölle machen. Ich kannte Jungs, die sich gegen Probleme mit anderen Schülern gewehrt hatten und die sogar auf dem Heimweg bedroht wurden. Das wollte ich nicht, feige oder nicht.
„Nein... die Kratzer heilen und damit ist die Sache erledigt..."
„Das ist nicht richtig, Alexy. Es hätte viel schlimmer kommen können und wenn du dich nicht wehrst, machst du dich nur noch mehr zum Opfer."
„Ein Opfer, wie du es warst damals?"
Kentin nickte.
„Ich bin dir dankbar, aber ich möchte es wirklich nicht."
Der Regen ließ nach, doch er und ich blieben so sitzen wie bisher.
Ich auf seinem Schoß, meine Stirn auf seiner Schulter und mein Bauch voller Schmetterlinge.
Ich sog seinen Duft ganz tief ein, um sicherzugehen, dass ich das nicht träumte.
War es wirklich geschehen oder fantasierte mein Hirn? Lag ich vielleicht mit zertrümmertem Kopf noch immer bei den Fahrradunterständen und war nun gefangen in einer Einbildung, damit ich nicht merkte, dass ich starb?
Ich zwickte mich und Kentin fing an, zu lachen.
„Was war das denn?"
Ich lachte leise.
„Nein. Es ist alles echt. Ich hatte schon Angst."
„Du bist echt 'ne Nummer, Alexander Bergmann!"
„Ich weiß. Aber... bis gestern hast du mich lieber gehen als kommen sehen und deswegen... ich muss mich doch wundern, oder?"
Kentin kicherte.
„Ich hab mich immer gefreut, wenn ich dich sehen konnte. Es fiel mir nur schwer, das zuzugeben."
„Ach und jetzt ist das anders?"
„Alexy, vielleicht erinnerst du dich nicht, aber wir sind einander gestern und heute... ziemlich nahe gekommen. Das hätte ich nicht zugelassen, wenn ich dich nicht mögen würde."
Ich hätte es gern gehabt, dass er mir gesagt hätte, ob er in mich verliebt war, so wie ich in ihn, aber ich dachte mir, dass das vielleicht noch etwas zu früh für ihn war. Dass er zuließ, dass ich ihn berührte, war wahrscheinlich schon mehr, als ich hätte erwarten können.

Lieb' mich nicht! [AS]Where stories live. Discover now