10. Alexy

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Es war toll, wieder in die Schule zu gehen, auch wenn ich nur zwei Tage verpasst hatte. Ich war keiner von denen, die gern zuhause rumhingen. Das war mir zu langweilig.  Ich hatte lieber meine Freunde um mich.
Die stille Viola wurde eigentlich nur bei mir richtig warm und lachte mal aus vollem Hals. Sie war am Anfang in mich verliebt. Bevor sie wusste, dass ich auf Jungs stand.  Und es hatte sie ein wenig aus der Bahn geworfen, als sie das erfuhr. Aber mittlerweile hatte sie es akzeptiert.
Denke ich.
Mir war schon bewusst, dass es nicht leicht war, hinzunehmen, das man den Jungen, den man wollte, nicht haben konnte, weil der auf Kerle stand. Aber sie hatte diesbezüglich nie wieder etwas gesagt. Obwohl sie das vorher auch nicht getan hatte...
MariJo hatte mir gesteckt, dass sie was von mir wollte und mir den Kick gegeben, ihr von meinem Schwulsein zu erzählen. Und jetzt war sie sowas wie meine beste Freundin.
Sie war das Gegenteil von mir. Der ruhige Pol, den ich manchmal brauchte, wenn ich zu sehr abzudrehen drohte. Ganz anders als Armin. Aber auch effektiv.
Und ich war das, was sie manchmal brauchte. Jemand, der ihr einen Tritt gab, damit sie auch mal aus sich heraus kam.
Jedenfalls war sie Feuer und Flamme wegen der Halloween-Party und kam sofort zu mir. Die Direktorin hatte sie und einige andere Künstler an der Schule gebeten, Plakate dafür zu entwerfen und sie fragte mich, ob ich ihr helfen würde. Das war genau das, was ich mochte.
Ich konnte selber nicht wirklich malen oder so, aber ich hatte ein gutes Verständnis von Farben.
Ich stand auf grelle und bunte Farben bei meinen Klamotten, aber bei Bildern und so beherrschte ich die Komposition verschiedener Farbtöne echt. Ich freute mich total auf die Party.
Verkleiden habe ich schon als Kind geliebt und ich liebte es, andere in Kostümen zu sehen. Wenn sie gut gemacht waren.
Also in dem Stil der Cosplay-Kostüme von Armin. Nicht der billige Mist aus dem Kostümverleihen.
Und ich würde wirklich als Horrorclown gehen. Ich hatte mir an meinem langen Wochenende bereits Gedanken darüber gemacht. Ich war gut im Kombinieren von Kleidungsstücken.
„Alexy, hörst du mir zu?" Violas Stimme drang in mein Bewusstsein.
Ich zwang mich aus meinen Tagträumen heraus und lachte.
„Ja... sorry."
Wir standen im Kunstraum über den Tisch gebeugt. Wir hatten lange Mittagspause. Sie schob ein paar Farbeimerchen hin und her, um zu sehen, welche Farben am besten zusammenpassten. Mit einem Bleistift hatte sie bereits eine Skizze angefertigt.
„Ich würde sagen, wir bleiben beim klassischen Farbmuster. Orange und Schwarz. Und das zweite Plakat würde ich in Lila, Schwarz und Pink gestalten. Aber die Entscheidung liegt bei dir..."
Viola nickte und öffnete die Töpfchen.
Ein beißender, aber nicht unangenehmer Geruch nach Lackfarbe stieg uns entgegen. Ich setzte mich auf einen Stuhl, während sie mit einem Holzstock die Farben umrührte.
„Schön, das du wieder da bist... es ist ziemlich langweilig ohne dich."
Ich lachte.
„Zuhause war es auch langweilig. Aber ich habe viel geschlafen und meine Mutter hätte mich mit dem Fieber niemals weggelassen."
Sie begann, mit helleren Farbtönen die Grundlage zu malen und ich starrte aus dem Fenster. Der Tag war schön. Eiskalt draußen, aber echt schön. Himmelblauer Himmel und kleine Schäfchenwolken. Ich sah ihr beim Malen zu.
Unser beider Köpfe gingen rum, als die Tür aufging. Mein Herz hüpfte schmerzhaft, als Kentin hineinkam und seinen Rucksack an einen der Tische stellte. Wir hatten nach der Pause zusammen Kunst.  Nur das er nicht mehr neben mir saß. So wie ganz am Anfang.
Sein Blick war alles andere als freundlich, als er mich ansah. Er verzog den Mund und drehte sich einfach wieder um und verschwand.
Als die Tür etwas lauter zufiel als notwendig, bemerkte ich gar nicht bewusst, dass ich seufzte.
„Du magst ihn, oder?"
Mein Kopf ging zu Viola rum, die grinste.
Ich nickte.
„Ja, aber er mich nicht."
„Rede doch mal mit ihm. Es sah so aus, als hättet ihr euch gestritten oder so."
Ich starrte sie einen Moment begriffsstutzig an. Mit ihm reden? Ja, warum nicht!
Ich hatte mit ihm noch nicht über das gesprochen, was geschehen war. Ich bereute es nicht, dass ich das gemacht hatte, aber vielleicht sollte ich mich bei ihm entschuldigen, um ihm zu zeigen, dass es mir leid tat, seine Intimsphäre verletzt zu haben.
„Ja... du hast Recht. Ich gehe ihm nach. Ich komme gleich wieder."
Ich sprang auf und folgte ihm hinterher. Ich sah mich nach rechts und links in dem Gang um und konnte ihn an einem der Fenster stehen sehen, mit einer Flasche in der Hand.
„Kentin!" rief ich.
Sein Kopf ging herum und sein Blick wandelte sich von neutral zu genervt und angefressen. Aber er blieb stehen. Ich hätte damit gerechnet, dass er sich aus dem Staub machte.
„Was willst du, Papa Schlumpf? Das du dich traust, mich anzuquatschen." Seine Stimme war ziemlich rauh.
Ich biss mir auf die Lippen und sah mich um. Der Gang war leer.
„Ich..." Schwer versuchte ich, den Frosch in meinem Hals runterzuschlucken. „Ich wollte mich entschuldigen... ich... ich bin dir eindeutig zu nahe getreten."
Kentin nickte und sah echt sauer aus.
„Schön, dass du das gecheckt hast. Du hättest es lassen sollen. Das ist doch krank... du bist ein Kerl... und dann machst du sowas..."
Er sah mich nicht an, aber ich hatte das Gefühl, das seine Wangen etwas Farbe bekommen hatten. Ich seufzte.
„Schade, dass du so denkst. Ich habe geglaubt, du wärst toleranter."
Als er mich nun doch ansah, traf der Blick aus seinen türkisen Augen mich ganz tief ins Herz. Jetzt wurde mein Gesicht rot, ganz sicher.
„Das bin ich. Ich hab kein Problem damit, dass du so tickst. Nur hör auf, mich damit zu nerven."
Ich schluckte.
„Aber..." Ich machte einen Schritt auf ihn zu und streckte meine Hand nach seiner aus.
„... es hat dir doch... gefallen? Oder? Ich meine... was ich gemacht habe...?"
Er sah mich entgeistert an und zog seine Hand von meiner weg.
„Fass mich nicht an!" zischte er und ich hielt in der Bewegung inne.
„Bild dir nichts ein, Freak. Die Reaktion, die mein Körper gezeigt hatte, war ganz natürlich und hatte nichts damit zu tun, dass ich dich irgendwie geil finde. Ich hätte dich anzeigen können dafür. Du musst doch echt glauben, es schneit, Alter. Check es doch mal. Ich will  nichts von dir. Ich bin  keine Schwuchtel. Also lass mich endlich in Ruhe!"
Ich straffte meine Schultern, wich jedoch keinen Zentimeter zurück. Sein Geruch berauschte mich.
Und ich konnte spüren, dass er ebenso angespannt war wie ich.
„Red dir das ein, Kentin. Solange, bis du es selber glaubst." sagte ich, während ich mit dem Gesicht ein wenig näher an seines heranging. Er hielt stand und wir starrten einander in die Augen. Ich hatte das Gefühl, er hielt den Atem an, konnte aber sehen, wie sein Kiefer mahlte und er sich über die Lippen leckte.
„Hm? Was geht in deinem Kopf vor? Hä? Willst du mich schlagen oder lieber knutschen? Schwere Entscheidung, oder?"
Ich näherte mich noch ein Stück und unsere Nasen berührten sich fast. Seine Lippen waren aufeinander gebissen und seine wunderschönen Augen blitzten.
„Geh doch sterben, Schwuchtel."
„Langweilig. Hast du nichts Besseres auf der Pfanne?"
Meine Haut kribbelte. Die Situation war so angespannt und geladen, dass es mich nervös machte. Allerdings nicht im Negativem.
„Verschwinde, bevor ich mich vergesse..."
„Um dann was zu tun, hm? Ich wüsste was..."
Ich konnte sehen, wie er seine Finger zu Fäusten ballte.
„Scheiße..." flüsterte er, als er meine Hand packte, mich ein Stück an sich zog und seine Lippen hart auf meine presste.
Ich machte ein leises überraschtes Geräusch und ließ es zu, dass seine Zunge in meinen Mund eindrang. Seufzend klammerte ich mich an ihn und krallte meine Finger in seine Haare. Gott, das war so verdammt gut!
Doch schon nach ein paar Sekunden stieß er mich weg und atmete schwer.
„Verdammt... Das ist alles deine verdammte Schuld. Was hast du gemacht mit mir? Ich kann das nicht... Ich darf  das nicht!"
Ich berührte meine Lippen.
„Ich habe gar nichts gemacht. Ich habe dir vielleicht nur gezeigt, was du wirklich willst."
Er sah mich stinksauer an.
„Ich will  nichts dergleichen hier, verdammt!"
„Kentin..." Ich machte einen Schritt auf ihn zu.
„Nein! Nein, Alexy... lass das... bitte. Ehrlich... das... das geht nicht. Lass mich einfach, ok?"
Sein Blick sah gehetzt aus, als hätte er Angst, irgendjemand könnte herauskriegen, dass wir uns nahegekommen waren. Irgendjemand, vor dem er sich fürchtete.  Ich seufzte und ließ die ausgestreckte Hand sinken.
„Ich zwing dich nicht. Ich will nur... dass du aufhörst, mich wie einen Aussätzigen zu behandeln."
Er sah mich nicht an. „Das tut mir leid... aber anders wird man dich nicht los..."
Ich kicherte. „Klappt nicht so gut, oder? Ich bin immer noch da."
Sein Blick war immer noch nicht sehr freundlich.
„Ja. Und genau das ist mein Problem."
„Was genau ist denn so schlimm an mir?"
Er seufzte und sah sich wieder in dem Gang um.
„Menschlich nichts. Ehrlich. Aber dieses Schwulending macht mir nur Ärger. Also lass das in Zukunft sein."
Irgendwie taten seine Worte mir weh und ich merkte, das meine Augen feucht wurden.
Ablehnung.
Wenn auch in zur Abwechslung einmal etwas freundlicheren Worten, aber es blieb eine Ablehnung. Meine Augen hingen an seinem Gesicht. Er war so... ich wusste kein Wort, mit dem ich ihn beschreiben konnte. Aber ich merkte erneut, dass ich ihn liebte. Dass ich ihn ganz für mich allein wollte.
„Es macht dir  also Ärger... und ich  amüsiere mich die ganze Zeit, natürlich. Ich hab total Spaß daran..."
Meine Stimme zitterte, ich hörte es ganz deutlich und wischte mir verräterisch über die Augen.
„Das tut mir leid, Alexy... ehrlich. Aber ich... das was du willst, kann ich dir nicht geben..."
Er sah mich kurz an und seine Augen sahen... sanft aus, fast zärtlich.
„... Ich darf  es nicht..."
Immerhin beleidigte er mich zur Abwechslung mal nicht. Aber diese klaren Worte taten nicht weniger weh als die Gemeinheiten. Ich zog die Nase hoch.
„Das macht es nicht besser... du streitest deine Gefühle ab, obwohl du weißt, dass es das ist, was du willst."
„Das ist nicht wahr! Ich... gebe zu, dass es irgendwie schön ist. Aber ich will das nicht! Das ist nicht richtig. Ich bin nicht schwul."
Ich biss mir auf die Lippen.
„Um sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, muss man nicht schwul sein. Aber was rede ich überhaupt. Du hast es noch nicht begriffen. Ok, du hast gewonnen. Ich lasse es."
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, um nicht mit Heulen anzufangen. Was sollte ich machen, wenn er so stur war, nicht zu seinen Gefühlen zu stehen? Er hatte bereits zugegeben, dass es ihm gefiel. Aber er konnte und wollte nicht zugeben, dass er meine Nähe gern öfter hätte, dass er vielleicht mehr als nur ein bisschen Knutschen von mir wollte. Dass er eventuell sogar den Wunsch hatte, eine Art Beziehung zu mir einzugehen. Oder Gefühle für mich hatte, wie ich sie hegte. Ich wandte mich ab.
Ich konnte jetzt nicht mehr hier stehen und so tun, als wäre alles normal.
Immerhin hatte er mir gerade mit unmissverständlichen und vernünftigen Worten klargemacht, das er mich nicht wollte.
Das zog besser bei mir als seine ewigen Beleidigungen.
„A-Alexy..."
Ich hob den Arm und brachte ihn so zum Schweigen.
„Nein. Lass einfach. Ist egal."

Ich ließ ihn stehen und betrat wieder den Kunstraum. Den erstbesten Stuhl greifend, ließ ich mich fallen und vergrub mein Gesicht in den Händen.
„Alexy?"
Viola ließ ihren Pinsel fallen und kam auf mich zu.
„Was ist denn?"
Sie ging vor mir auf die Knie und griff nach meinen Händen. Ich wandte das Gesicht ab, denn ich wollte nicht, dass sie sah, dass ich mal wieder am Heulen war. Ich hatte es ja nicht anders gewollt. Ich hatte Kentin gesagt, es war ok und ich würde ihn in Ruhe lassen. Anstatt ihm zu sagen, dass ich ihn wollte und dass ich nicht aufgeben würde, ihm das zu beweisen.
„Was hast du denn?"
Ich zog die Nase hoch und wischte mir über die Augen.
„Nichts. Das Übliche."
„Ken hat dich abblitzen lassen?"
„Was heißt Abblitzen lassen? Ich hab ja gar nichts versucht..."
„Das tut mir leid für dich. Ehrlich... als ich erfahren habe, dass du... naja auf Jungs stehst, hab ich mich auch schlecht gefühlt... Nicht weinen."
Sie umarmte mich und ich presste meine Nase an ihre Schulter. Sie duftete nach Flieder und Jasmin und das beruhigte mich. Ich klammerte meine Hände in die Ärmel ihres Pullovers. Es tat gut, das sie da war, obwohl ich normalerweise lieber allein war, wenn ich heulen musste.
„Alles wieder ok?" Sie lächelte und reichte mir ein Taschentuch.
„Ja. Danke. Entschuldige..."
„Kein Ding... ich bin für dich da."
Ich stand auf und nahm an dem Tisch Platz, auf dem wir normalerweise saßen in den Stunden. Viola räumte die Sachen für die Halloweenparty zusammen und nahm neben mir Platz. In weniger als zehn Minuten würde es zum Unterricht klingeln und mein Herz zog sich zusammen beim Gedanken daran, dass Kentin dann auch hier im Raum sein würde.
Ich sah nicht zur Tür, sondern blickte aus dem Fenster, als die Stunde anfing. Und ich tat den ganzen Unterricht nichts anderes.
Ich wollte nicht, das irgendjemand meine verheulten Augen sah.
Schon gar nicht Kentin.
Oder gar noch Castiel, der es sicherlich laut herumposaunt hätte. Nicht, weil wir nicht miteinander auskamen, sondern weil er das wahrscheinlich einfach irre komisch finden würde, wenn ein Junge in der Schule weinte.
Der Tag war gelaufen und ich wollte nur noch nach Hause, mich unter meiner Bettdecke verkriechen und an meinem gebrochenen Herzen sterben.

Lieb' mich nicht! [AS]Kde žijí příběhy. Začni objevovat