7. Kentin

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Ich rannte einfach weg!
Ich blickte mich nicht um, ich achtete nicht darauf, ob ich jemanden anrempelte oder jemandem die Tür vor der Nase zuschlug, ich wollte einfach weg!
Als ich versuchte, mein Fahrradschloss aufzuschließen, merkte ich erst, wie sehr meine Hände zitterten. Mein ganzer Körper zitterte und mein Herz raste.
Ich schwang mich auf das Fahrrad und radelte nach Hause. Achtlos stellte ich es ab und betrat das Haus.
„Kentin, WO kommst du jetzt erst her?!"
Ich hätte bereits vor einer halben Stunde zuhause sein sollen, aber da war Alexy noch... Krampfhaft verdrängte ich die Erinnerung.
„Entschuldige, Paps... ich war in der Schulbücherei und hab die Zeit verpennt..." murmelte ich und hoffte, dass er nicht merkte, dass meine Wangen rot wurden. Er würde mich umbringen, wenn er erfahren würde, was gerade vor nicht einmal einer Stunde geschehen war.
„Es ist wirklich zum Verrücktwerden mit dir, du elender Bengel! Man sagt dir etwas und du machst es nicht. Wie konntest du nur so werden, wo du doch mein Sohn bist? Deine Mutter hat dich zu einem Weichei erzogen. Scher dich auf dein Zimmer, ich will dich bis zum Abendessen nicht mehr sehen!"
Ich biss mir auf die Lippen, machte auf dem Hacken kehrt und ließ im ersten Stock meine Zimmertür lauter zufallen, als ich es eigentlich tat. Ich zitterte noch immer. Aber diesmal eher durch Wut auf meinen Vater.
Ich war ein Teenager, verdammt. Ich wollte tun, was ich wollte und nicht immer nach der Pfeife meiner Eltern tanzen.
Eigentlich müsste ich meinem alten Herren jetzt erst recht unter die Nase reiben, dass ich meine erste sexuelle Erfahrung überhaupt gerade mit einem Jungen gemacht hatte. Als die Erinnerung zurückkam, schoss die Hitze wieder in meine Wangen.
Ich hatte das Gefühl, seine Hände noch immer an ihr zu spüren. Den fruchtigen Kaugummigeschmack seiner Zunge würde ich nie mehr vergessen, dessen war ich mir sicher.
Mein Körper kribbelte.
Was hatte er sich dabei gedacht, sowas zu machen?
Ich fühlte mich schmutzig. Und gleichzeitig besser als jemals zuvor. Als hätte mir Alexys Übergriff eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen. Doch ich weigerte mich, hinzunehmen, dass ich seine Berührungen genossen hatte.
Dass ich es „geil" fand, was er gemacht hatte. Denn es durfte nicht sein!
Mein Vater würde mich umbringen, wahrscheinlich mit seinen eigenen Händen erschlagen oder mich verstoßen und dafür sorgen, dass ich völlig allein dastand und wahrscheinlich auch die Zustimmung meiner Mutter verlieren würde. Denn meine Mutter tat immer nur das, was mein Vater wollte.
Auch wenn das hieß, mich auf einen verlorenen Posten zu stellen.
Ich konnte nicht...
Selbst wenn ich es wollte.
Der frische, sommerliche Geruch von Alexys Haut hing noch immer in meiner Nase. Irgendwie duftete er wie eines dieser Duschbäder für Mädchen, aber ich fand es sehr angenehm.
Ich musste es loswerden.
Dieses heiße Ziehen, das in meinem Körper tobte, seit Alexy mich berührt hatte. Der Geruch in meiner Nase musste verschwinden, der Geschmack seines Kaugummis auf meiner Zunge...
Fluchend begann ich, mich bereits in meinem Zimmer auszuziehen und ließ die Klamotten einfach achtlos fallen.
Unter der Dusche drehte ich das Wasser so heiß, dass ich es gerade so aushalten konnte und seifte mich wesentlich kräftiger ein als ich es üblich tat. Ich musste jede Spur dieses Jungen von mir abwaschen, was bedeutete, dass ich auch seinen Speichel von meinem Teil abbekommen musste.
Schließlich blieb ich einfach unter dem Wasserstrahl stehen und starrte meine Füße an.
Was machte ich hier nur? Belog ich mich nicht permanent selbst?
Es war doch eindeutig, dass ich es genossen hatte, dass er mich berührte, mich küsste, intime Dinge mit mir tat.
Vielleicht war ich keine Schwuchtel, aber meine Gedanken spielten mir immer wieder erotische Filme vor, in denen ich und Alexy die Hauptrollen waren. Filme, die mir die Schamesröte in die Wangen und das Blut in die Lenden schießen ließ.
Er hatte Recht mit dem, was er in der Kabine gesagt hatte, oder?
Ich war verunsichert, weil ich ihn mochte, wie er es tat... auf schwule Art und Weise.
Ich trocknete mich ab und legte mich nur in Shorts auf mein Bett.
Wie konnte ich mich nur der Fantasie hingeben, dass es mehr sein könnte als eine einmalige Sache zwischen mir und Alexy?
Ich wollte mich nicht verstellen müssen, aber ich konnte auch nicht einfach sagen, dass ich es mit ihm versuchen wollte, sehen wollte, ob es nur eine zeitweilig aufwallende Phase der homoerotischen Lust und Neugier oder doch die Tatsache, dass ich schwul oder bisexuell war. Und wer sagte mir, dass er das überhaupt noch wollte?!
Ich war nach der Aktion heute nachmittag ziemlich gemein zu ihm. Ich bereute das. Er war nicht widerlich.
Aber im Eifer des Gefechts war das dass erste, was mir einfiel. Ich war so geschockt über das, was er getan hatte, über das, was ich empfunden hatte, über die Scham, dass ich mich so hatte gehen lassen. Dass er das getan hatte, es einfach... runterzuschlucken, als wäre es nur Wasser oder so.
Dass in meinem Kopf solche Sachen abliefen, während er das tat, dass ich so angespannt und erregt war, dass ich am liebsten noch viel mehr als das mit ihm erlebt hätte.
„Verdammt..." murmelte ich und streckte mich.
Warum war das so kompliziert? Warum musste mir das passieren...
Reichte es nicht, dass ich einen fanatischen Militärfreak mit Kontrollwahn zum Vater hatte? Musste ich wirklich auch noch ausgerechnet sexuell unentschlossen sein?
Er würde mich umbringen! Über diesen Gedanken konnte ich gar nicht klarkommen.
Ich machte mir Sorgen, was am morgigen Tag geschehen würde, wenn wir einander wiedersahen.
Ich hatte ihn schlimm beleidigt, er hatte meine Intimsphäre verletzt.
Trotzdem hatte ich keinen Bock, wieder von ihm zu hören, dass er wusste, dass ich ihn wollte.
Wie konnte er das wissen, wenn ich selber nicht wusste, was ich wollte?
Dieser kleine arrogante Schlumpf!
Nur weil er schwul war, wusste er noch lange nichts über meine Gefühle!
Ich warf mich vom Bett auf den Teppich und begann, hektisch Liegestütze zu machen.
Das half, um den Kopf freizukriegen. Meine Arme begannen, wehzutun, als ich bei 100 ankam und ich ließ mich erschöpft einfach auf den Bauch fallen.
So ein verdammter Mist...
Warum musste ausgerechnet mein Leben so verdammt kompliziert sein?
Ich dachte, es würde alles besser werden, wenn ich nur diese beschissene Militärakademie überleben würde, dass ich akzeptiert werden würde, wenn ich größer, stärker und athletischer wäre, meine Haare anders tragen und andere Klamotten tragen würde.
Doch es war nichts dergleichen geschehen!
Mein Vater sah in mir noch immer einen Versager und würde das wahrscheinlich selbst dann noch denken, wenn ich in Afghanistan oder sonst wo auf der Welt von einer Kugel durchlöchert oder von einer Landmine zerfetzt werden würde. Denn würde ich draufgehen, hätte ich bewiesen, dass ich zu schlecht für diesen Job war.
Und in der Schule war auch nichts anders geworden.
MariJo, ok, sie war da und sie behandelte mich genauso wie vorher. Aber das war ja früher auch schon gut gewesen. Sie mochte mich.
Die anderen behandelten mich beinahe genauso schlecht wie früher.
Ich gehörte nicht plötzlich zu den Beliebten, nur weil ich anders aussah. Ich bemerkte anerkennende Blicke von den Mädchen, aber ich wurde nicht plötzlich zu coolen Parties eingeladen oder von den „coolen Kids" aufgefordert, mich in der Cafeteria zu ihnen zu setzen... wie man das so kannte aus amerikanischen Teenagerfilmen, wo mit einer Veränderung des Styles von einem Tag auf den anderen alles anders war.
Die Menschen waren in Wahrheit wohl doch nicht so oberflächlich. Ich hatte nicht auf einmal total viele Freunde. Im Gegenteil.
Jetzt hielten sie mich alle für oberflächlich und arrogant, was zum Teil auch daran lag, dass ich am ersten Tag den Spruch bei Amber gelassen hatte, dass sie schlecht küsst und einfach nur doof ist. Sie hat es rumerzählt und behauptet, ich sei ein Arschloch.
Vielleicht war ich das... aber sie hatte es nicht anders verdient.
Ich drehte mich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Mir wurde bewusst, dass ich alles auf diese eine Chance gesetzt hatte.
Ich hatte mich bereit erklärt, diese Qual über mich ergehen zu lassen, um mich zu verändern. Damit ich nicht mehr das Opfer sein musste, auf dem alle rumhackten.
Ich wollte stark sein.
Nicht mehr heimlich unter der Bettdecke weinen, wenn ich sicher war, das mich niemand hörte.
Nicht mehr mit Angst, mir könnte jemand auflauern, in die Schule gehen.
Nie wieder derjenige sein, auf dessen Kosten gelacht wurde.
Ich hatte gehofft, durch die pure Veränderung des Nerds Ken in den Kentin, der ich sein wollte, würde ich Freunde finden können. Aber das war eine Illusion.
Schließlich hatte ich nie viele Freunde. Schon an der alten Schule nicht, von der ich abgegangen war, als MariJo diese verlassen hatte.
Einerseits tat ich das, weil ich verliebt in sie war und es nicht ertragen konnte, sie nicht mehr sehen zu können. Andererseits tat ich das, weil die Zeit, in der sie weg war, zur Hölle auf Erden für mich wurde.
Sie war auch an der alten Schule meine einzige wirkliche Freundin. Auch wenn sie kein Blatt vor den Mund nahm und mir auch schon mal ins Gesicht sagte, dass ich sie nervte. Aber das machte sie aus.  Sie war ehrlich. Und sie nahm mich, wie ich war und versuchte nicht, mich zu ändern.
Auf der Amoris ging das Ganze dann genauso weiter.
Es musste so sein, das Teenager es riechen konnten, wenn sich ein kleines und schwaches Exemplar unter ihnen befand. Denn es dauerte nicht lange, bis man hier bemerkte, dass man es mit mir ja machen konnte.

MariJo fand schnell Anschluss, freundete sich mit dem Schulsprecher Nathaniel Fürst an, mit dem Hobbydichter Lysander Starck, den meisten Mädchen unseres Jahrganges, außer Amber und ihren Tussis, und sogar mit dem Miesepeter Castiel, in den sie fast von Anfang an verknallt war. Ich hatte nur sie.
Obwohl die Freundinnen von MariJo, Iris und Viola, auch nett zu mir waren.
Aber richtige Freunde waren sie eben nicht. Und die Jungs, die „Coolen" wie Lysander oder Castiel, auf die fast alle Mädchen irgendwie standen, bemerkten nicht mal, dass ich da war, wenn ich ihnen nicht zufällig im Weg stand.
Als mein Vater dann schließlich über meinen Kopf hinweg entschied, dass ich auf die Akademie gehen sollte, fügte ich mich und versuchte, mir einzureden, dass dies eine Chance für mich war, endlich mutiger zu werden.
Es hatte funktioniert... ein bisschen.
Ich war körperlich nun das, was ich immer sein wollte, ich machte einen ganz angenehmen Eindruck, wenn ich in den Spiegel blickte und hatte ein relativ dickes Fell bekommen durch den Drill der Lehrer an der Akademie.
Doch mein eigentliches Leben fand ja hier statt. An der Amoris, an der sich nun ein blauhaariger Freak dazu entschlossen hatte, mein Innerstes nach außen zu kehren, mich ins Chaos zu stürzen und alles daran zu setzen, dass ich an allem, was ich einst einmal glaubte, über mich zu wissen, zu zweifeln begann.
Ich hasste ihn!
Wütend ballte ich meine Hand zur Faust.
Nein, ich tat es nicht, ich belog mich erneut. Aber ich wollte es. Ihn hassen. Alles dafür tun, dass er aus meinem Leben verschwand und diese komischen Gefühle mitnahm, wo der Pfeffer wuchs!
Ich zog mir Sportsachen an, als meine Mutter mich zum Abendessen rief und vermied es, dem Gerede meines Vater zuviel Beachtung zu schenken.

Ich ging nach den Hausaufgaben direkt ins Bett und träumte komisches Zeug, an das ich mich am Morgen nicht mehr wirklich erinnern konnte.
Der Tag begann mit ziemlich miesem Wetter, weswegen ich mit dem Bus zur Schule fuhr. Mir fiel auf, dass viele meiner Mitschüler dieselbe Idee hatten und entdeckte auch den Zocker, Alexys Bruder Armin, auf einem der Sitze. Alexy war nicht bei ihm.
War er vielleicht krank?
Hatte ich eine Gnadenfrist bekommen, bevor ich ihm wieder in die Augen sehen musste? Obwohl ja eigentlich er sich schämen musste, immerhin hatte er das bei mir gemacht und nicht umgekehrt.
Ich ignorierte die fiese kleine Stimme, die mir ins Ohr flüsterte, dass ich deswegen gekommen war, es also geil fand.
Er hatte mich eben genau da erwischt, wo man als Mann nicht verhindern konnte, dass der Körper reagiert!
Ich seufzte und lehnte mich an den Sitz.
War ich wieder beim Leugnen angekommen? Ich hatte mir schon mal eingestanden, dass es mir gefallen hatte... mich störte nur, dass Alexy eben ein Junge war!

Es war Freitag und man merkte die Freude auf das Wochenende in jedem Gang, den man entlang lief. MariJo, die in den Pausen oft bei mir war, stalkte ihren Schwarm Castiel quer über den Schulhof und seufzte immer wieder, dass es schon nervte.
„Warum gehst du nicht einfach zu ihm und quatschst mit ihm? Ich denke, ihr versteht euch?" brummte ich nach zehn Minuten.
„Du hast leicht Reden. Als ob man mit Castiel einfach so mal eben reden könnte... worüber denn?"
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ist deine Sache, ich stehe ja nicht auf Kerle..."
Den Blick, den sie mir zuwarf, konnte man schon als provokant bezeichnen.
„Aber auf Alexys... ein bisschen." Sie lachte und ich sah sie böse an.
Wenn sie wüsste, was gestern los war in der Jungentoilette.
„Hör auf zu spinnen."
Ihr Lachen wurde nur etwas lauter.
„Hey, hast du die Aushänge schon gesehen? Für die Halloween-Party?"

Lieb' mich nicht! [AS]Where stories live. Discover now