6. Alexy

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Er lief davon und ich blieb in der Kabine auf den Knien hocken. Ich wischte mir mit dem Handrücken über den Mund und ließ mich auf den Hintern sinken.
„Verdammt..." murmelte ich und lehnte mich an die Wand, den Kopf in den Händen. Ich hatte es wieder getan und hatte wieder die Rechnung dafür kassiert. Ich hatte mich erniedrigt und wurde wieder beschimpft.
Immer und immer wieder beging ich diesen verdammten, saudummen Fehler. Aber es hatte ihm doch gefallen?!
So sehr er selbst sich sträubte und behauptete, er würde das alles eklig finden, die Reaktion seines Körpers war echt. Das konnte man nicht spielen.
Ich hatte sein Zittern gespürt, die Gänsehaut auf seinen Armen, das lustvolle Krampfen und unwillkürliche Zucken seiner Muskeln. Und er war gekommen, oder nicht?
Sein Geschmack verteilte sich nach wie vor mild auf meiner Zunge.
„Kacke..." stieß ich hervor und spürte, das meine Augen heiß wurden. Ich würde jetzt hier nicht heulen!
Nicht hier, auf einer kalten und schmutzigen Jungentoilette mitten in der Schule. Energisch und wütend rieb ich mir die ersten Tränen aus den Augen.
Dieser Idiot! Dieser verdammte Idiot!
Er wollte es genauso wie ich und nur, weil er ein Feigling war, behandelte er mich wie einen Aussätzigen, beleidigte mich, trampelte auf mir herum. War ich denn gar nichts wert?
Hatte ich es nicht verdient, jemanden zu haben, der mich liebte? Der mir sagte, dass er mich so mochte wie ich war und keine Angst hatte, dazu zu stehen?
Ich zog die Knie an mein Kinn und vergrub mein Gesicht im Stoff meiner Jacke. Ach scheiß doch drauf. Ich heulte.
Ich bekam nicht mit, wie viel Zeit verging, doch als ich aufstand und mir am Waschbecken das Gesicht wusch, bemerkte ich, dass es draußen bereits dunkel wurde.
Also war es mindestens halb 5, schließlich hatten wir schon Oktober und der Herbst hielt bereits Einzug.
Ein Blick in den Spiegel zeigte keine Anzeichen mehr davon, dass ich bestimmt eine Stunde lang nur geheult hatte. Ich schulterte meinen Rucksack und verließ das Schulgebäude. Armin war natürlich nicht mehr da.
Wenn ich länger brauchte, hatten wir die Abmachung, dass er schon vorgehen konnte. Geknickt und müde schloss ich mein Fahrrad ab und radelte nach Hause.

„Wo warst du denn?" Armin saß inmitten seiner Bücher auf dem Bett und machte Hausaufgaben.
„Ich will nicht darüber reden..." Ich hörte selber, dass meine Stimme zitterte.
„Oh..." machte mein Bruder nur und ließ mich in Ruhe.
„Ich hasse mein Leben." murmelte ich nach einer Weile des Schweigens.
Armin kletterte von seinem Bett runter und sah über den Rand des Oberbettes. Als er merkte, dass ich heulte, kam er zu mir hoch.
„Willst du wirklich nicht reden?"
„Ich hab mich zum Affen gemacht. Und erniedrigt. Und wurde wieder einmal nur beschimpft. Ich hasse ihn... und doch tue ich es nicht. Scheiße..."
Ich vergrub mein Gesicht in meinem Kissen und versuchte, mir das Schluchzen zu verkneifen.
„Ich will nicht sagen, ich hätte es dir ja gesagt, aber Ken ist nicht der Richtige für dich, wenn er dich so behandelt. Du bist schwul, ok, aber du bist weder eklig noch krank oder so!"
Ich musste total verheult aussehen, als ich Armin ansah, aber er lächelte nur.
„Was hast du denn gemacht, wenn du sagst, du hast dich erniedrigt?"
Ich sagte es ihm.
„Im Jungenklo? Oh Mann..." Mein Bruder verzog den Mund, grinste dann aber wieder.
„Komm, wir zocken ein bisschen Mario Kart, das bringt dich auf andere Gedanken."
Ich nickte und richtete mich auf.
„Wahrscheinlich hast du recht. Am liebsten würde ich ihn nie wieder sehen. Wie soll ich ihm morgen in die Augen sehen?"
Armin schaltete den Fernseher ein und startete die Wii.
„Wenn er einen blöden Spruch bringt, denk immer dran, er hat schließlich mitgemacht und abgespritzt. Also bist nicht nur du dran, wenn das rauskommt."
Ich schmunzelte. Er hatte Recht.
Und ich würde mir nicht den Schuh anziehen, ihn gezwungen zu haben. Ich hatte ihn angefasst, ok, aber hätte er sich gegen mich gewehrt, hätte ich von ihm abgelassen. Zwang hatte ich nicht nötig und würde ich nie anwenden. Und während er sein „Hör auf" gejammert hatte, hatte er sich mir gleichzeitig entgegen gedrängt.
Bis zum Abendessen hatte ich vier Grand Prix gegen Armin gewonnen und zwei verloren.
Ich ließ mir nichts anmerken vor meinen Eltern, denn ich wollte nur ungern, dass sie von meinen Erfahrungen erfuhren.
Meine Mutter machte sich eh schon total Gedanken um meine Gesundheit und deckte mich mit Kondomen ein, seit ich 15 war. Ich konnte schon fast damit handeln, denn soviele, wie ich neu bekam, konnte ich gar nicht verbrauchen.
Wie auch?
Ich hatte zu dem Zeitpunkt gerade einmal mit zwei Jungen geschlafen, von denen nicht einer schwul war, sondern mich lediglich zur Befriedigung einer Neugier benutzt hatten.
Ich vermied es, darüber nachzudenken. Ich war selber neugierig gewesen und hatte es eben zugelassen. Und schlecht war es ja auch nicht.
Denn obwohl ich schon immer wusste, dass ich Männer liebte, hatte ich noch nie einen Freund, mit dem ich diese Erfahrungen etwas romantischer hätte machen können.
Und wenn meine Mutter oder gar mein Vater nun erfahren würden, dass ich in der Schule in einer Toilettenkabine vor einem Mitschüler auf die Knie gegangen war und ihm einen Blow Job verpasst hatte, würden sie das sicher nicht gut finden...
Das Gespräch plätscherte während des Essens so vor sich hin.
Mein Vater erzählte, dass man im Kaufhaus einen Dieb auf frischer Tat ertappt hatte und meine Mutter, die mit behinderten Kindern arbeitete, berichtete von dem einen oder anderen Supergau, weil ihre Schützlinge zu Wutausbrüchen neigten.
Nach einer gemeinsam angesehenen Folge von „Criminal Minds" verschwand ich im Bad und stellte mich unter die heiße Dusche.
Ich konnte nicht aufhören, daran zu denken...
Wie er vor mir stand, die Hände vor unterdrückter Lust zusammengeballt, die Zähne aufeinander gebissen und trotzdem durch die Nase schwer atmend. Sein Zittern, sein Geschmack auf meiner Zunge...
Ich war verloren.
Ich hatte mir mit der Aktion wahrscheinlich mehr geschadet als ihm. Denn ich stand nun da, gequält von der Erinnerung und der Sehnsucht in der Brust, diese Situation zu wiederholen, in angenehmerer Umgebung, zusammen mit ihm in einem Bett, noch viel mehr miteinander machend als nur das...
Ich ließ es zu, dass Tränen kamen, denn das Wasser der Dusche spülte sie weg.
Warum immer ich...
Ich wollte ihn so sehr... und wollte so sehr, dass er mich einmal mit einem anderen Blick ansah als diesem verkniffenen, der Verachtung ausdrücken sollte.
Verachtung, die ich ihm nicht abkaufen konnte.
So, wie er sich verhielt, wollte er mich mindestens genauso, doch er gestand es sich nicht ein.
Ich wusste nicht, wie es in seiner Familie aussah, aber er schien Angst vor diesen Gefühlen zu haben.
Müde und geistig erschöpft trocknete ich mich ab und huschte nur mit einem Handtuch in Armins und mein Zimmer. Ich zog mich an, kramte meine Lieblingsklamotten, olivgrüne Hose, blaues T-Shirt und orangene Jacke, aus dem Schrank, um sie am morgigen Freitag zu tragen und legte mich nur in Unterhosen ins Bett.
Mein Kopf quälte mich mit Bildern und Fantasien und ich vergrub ihn unter meinem Kissen.
Ich hasste es, verliebt zu sein.
Jeder, der sagte, dass wäre toll, log und hatte keine Ahnung, wie die Kehrseite der Liebe aussah. Wenn alles rosarot und toll war, mochte das stimmen, aber wenn man allein und unerwidert liebte, war es grausam.
Ich wollte nicht wieder heulen. Das war nicht meine Art.
Ich hasste es, schlechte Laune zu haben und ich hasste es, wenn jemand mir meine gute Laune wegnehmen wollte.
Nach meinem MP3-Player greifend, zog ich meine Kopfhörer auf die Ohren.
Meine Musik, die meine Eltern und Armin für Krach hielten, heiterte mich immer auf und ließ in mir immer die Lust zu tanzen aufkommen.
Ich drehte sie auf und merkte schon nach wenigen Sekunden, dass meine Beine im Takt zu zucken begannen und meine Laune sich wieder steigerte.
Ich bekam nicht mehr mit, das Armin den Player ausgemacht haben muss, denn als ich am nächsten Morgen aufwachte, lagen meine Headphones und das kleine Gerät auf dem Laken neben mir.
Es war noch nicht Zeit zum Aufstehen.
Die Uhr zeigte gerade mal kurz nach 5 und ich starrte an die Decke. Die Laterne vor unserem Fenster erleuchtete einen Streifen der Tapete und ich konnte Armin leise im Bett unter mir atmen hören.
Mein Kopf tat weh und der Geschmack im Mund ekelte mich an. Ich hangelte nach meiner Wasserflasche und trank ein paar Schlucke.
Mit schweren Augen verfolgte ich den Zeiger der Uhr, wie er von 5.10 auf 5.40 krabbelte und irgendwann fielen meine Lider wieder zu.
Als der Wecker um 7 klingelte, hatte ich schreckliche Kopfschmerzen, meine Nase war zu und mein Hals fühlte sich entzündet an.
Armin holte meine Mutter und die kam gleich mit einem Fieberthermometer.
„Tja, Schatz. 39,9 Grad. Du bleibst heute hier und ich rufe gleich Dr. Wolff an."
Mir war das ganz Recht.
Ich hatte keine Ahnung, warum ich auf einmal krank war, aber man sagte ja oft, das Stress und Angst sowas auslösen konnten.
Und ich war zerfressen vor Sorge, wie ich Kentin je wieder gegenüber treten sollte nach dem, was ich gemacht hatte.
Armin hatte zwar Recht, er hatte mitgemacht und konnte sich gar nicht herausreden, was das anging, aber ich schämte mich trotzdem irgendwie.
Mein Bruder machte sich für die Schule fertig, während meine Mutter mir einen Tee brachte.
Ich fühlte mich echt schlecht, war verschwitzt und bekam schlecht Luft.
„Wenn der Militär-Heini irgendwas Dummes sagt, verpass ich ihm eine von dir, ok?"
Ich lächelte Armin matt an und nickte.
„Danke..."
Er ging zur Schule und meine Mutter machte mir den Fernseher an, damit ich nicht einschlief, bis unser Hausarzt kam.
Der untersuchte mich eine halbe Stunde später, schrieb meiner Mutter ein paar fiebersenkende und schmerzlindernde Mittel auf und verpasste mir eine Krankschreibung bis nächste Woche Montag und strikte Bettruhe.
So verbrachte ich den gesamten Tag, bis Armin wieder zurückkam, damit, Löcher in die Luft zu starren und über alles und nichts nachzudenken.
Immer wieder nickte ich ein, träumte von Kentin, schreckte wieder hoch und grübelte wieder.
Mir wurde bewusst, dass ich nicht glücklich werden würde, wenn ich es nicht schaffte, ihn zu vergessen, denn ich würde es nicht aushalten, von ihm hin und her gerissen zu werden.
Auch wenn er mich wollte, er würde es nicht zugeben, denn er war ein Feigling.
Vielleicht war er das auch nicht, aber er schaffte es nicht, dazu zu stehen, dass ich ihm nicht egal war.
Ich wünschte mir so sehr, dass er mir egal wäre.
Dass ich nie mein Interesse für ihn entdeckt hätte.
Dass ich das in der Toilette heute nie getan hätte.
Doch ich konnte die Zeit nicht zurückdrehen und ich konnte mir das Herz nun mal leider nicht herausreißen. Also musste ich Wege finden, so damit fertig zu werden, dass ich einen Jungen liebte, der mich ablehnte.
Aber ich hatte schon ganz andere Dinge überstanden...

Lieb' mich nicht! [AS]Место, где живут истории. Откройте их для себя