17. Kentin

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Alexy lächelte mir noch mal zu, bevor er um die Ecke verschwand und ich blieb noch einen Moment stehen.
Unter anderen Umständen hätte ich mir vielleicht Sorgen gemacht, dass jetzt nicht nur MariJo und Armin über Alexy und mich Bescheid wussten, sondern auch ausgerechnet Castiel, aber gerade stand alles im Hintergrund.
Denn mein Vater wartete garantiert schon zu Hause auf mich. Wahrscheinlich mit einem Stock bewaffnet. Oder mit einer 9mm.
Mein Magen zog sich zusammen, je näher ich meinem Elternhaus kam und als ich den Schlüssel im Schloss herumdrehte, hörte ich ihn schon brüllen.
SCHER DICH HIER INS WOHNZIMMER, KENTIN, ABER ZACKIG!!"
Ich schluckte und straffte die Schultern.
Erinnerte mich daran, dass ich mich geprügelt hatte, um den Menschen zu verteidigen, den ich lieb hatte.
„Vater..."
Kaum war ich im Wohnzimmer, hatte ich die erste Ohrfeige zu sitzen.
Meine Augen tränten. Die Haut brannte und ich verkniff mir ein schmerzerfülltes Keuchen.
Spinnt du denn eigentlich, du nichtsnutziger Idiot!? Dich in der Schule zu prügeln. Und das deine Direktorin hier auch noch anruft. Weißt du, wie deine Mutter und ich jetzt dastehen? Als hätten wir dich nicht im Griff. Verdammter Rotzbengel! Hast du in der Akademie keine Disziplin gelernt!?"
Ich biss meine Lippen zusammen.
Mein Vater wusste sehr wohl, auf welche Art ich Disziplin gelernt hatte. Dass in der Akademie auch geprügelt wurde, war einer der Aspekte, die ihm zugesagt hatten.
„Tut mir leid..." murmelte ich.
Bah, da scheiß ich drauf, Bengel. Ich hab dir gesagt, was passiert, wenn du Scheiße baust und als was würdest du eine Schlägerei bezeichnen? Aus welchem ach so heldenhaften Grund hast du das denn gemacht, hm? Die Ehre irgendeiner Schlampe verteidigt, die dich am Ende doch nicht ranlässt?"
Ich ballte meine Hände zu Fäusten.
„Nein, Vater! Ich wollte einem Freund helfen. Denn so habe ich es auf der Akademie gelernt. Dass es meine Aufgabe ist, einem Schwächeren zu Hilfe zu kommen."
Mein Vater schnaubte und sah mich verächtlich an.
Ach, du Held hast einem Freund geholfen, ja?" Die Ader am Hals meines Vaters pochte bedrohlich und sein Gesicht wurde rot. Meine Mutter stand in der Küchentür und sah ängstlich aus.
Ob sie Angst hatte, das mein Vater mich nochmal schlagen würde oder sich Sorgen um sein Herz machte, konnte ich nicht sagen. Aber ich fühlte mich sonderbar allein gelassen von ihr.
Ein kleiner Freund, hm? Du dreckige kleine Schwuchtel hast also einem Freund geholfen, ja?"
Er schlug mir wieder ins Gesicht und ich spürte, wie ein Rinnsal Blut über meine Lippen floss. Ich sah ihn einfach nur an und leckte es weg. Ich würde ihm niemals wieder zeigen, dass ich Angst vor ihm hatte.
Ich hatte sogar furchtbare Angst, aber ich wollte nie wieder so schwach sein, dass er Macht über mich hatte.
Es fühlte sich nach Verrat an, aber um meinem Vater den Wind aus dem Segeln zu nehmen, sagte ich:
„Ich hab dir gesagt, dass ich nicht schwul bin. Ich habe einem Mitschüler von mir geholfen, weil er von drei Typen bedroht wurde, die ihn zusammengeschlagen hätten, wenn er allein geblieben wäre. Und falls es dich interessiert, Vater, aber ich war der Sieger in der Klopperei."
Mein Vater stand vor mir wie ein schnaubender Stier.
Das interessiert mich einen Scheißdreck, ob du diese Kinderschlägerei gewonnen hast. Du hast deine Mutter und mich lächerlich gemacht und dich wie eine Schwuchtel benommen. Ich schließ dich bis zum Sankt-Nimmerleinstag ein, wenn das noch einmal vorkommt! Noch ein Fehltritt, mein Freund, und du machst deinen Abschluss auf der Akademie. Und wenn du dich auf deinen saudummen Kopf stellst!"
Ich schluckte und nickte nur.
Jetzt scher dich in dein Zimmer und wehe, ich sehe dich heute Abend noch einmal!"
Meine Mutter sah mich mitleidig an, so als würde sie sich bei mir entschuldigen wollen, doch ich wich dem Blick aus. Ich konnte nicht ertragen, dass sie so tat, als wäre nichts passiert. Als würde ein Blick reichen, um wiedergutzumachen, dass sie mich wieder mal den Launen meines Alten ausgeliefert hatte.
Warum tat sie das? Ich meine, ich wollte nicht, dass sie sich dazwischen warf oder so, ich wollte nie, dass sie etwas abbekam, aber ein wenig Unterstützung, auch nur durch ein beruhigendes Wort zu meinem Vater, würde mir schon reichen.
Denn mein Vater liebte sie. Mehr, als er mich je geliebt hatte und mehr, als er mich je würde lieben können. Er würde nie etwas tun, was ihr schaden könnte.
Doch mich behandelte er wie einen Aussätzigen. Merkte er denn nicht, dass das meiner Mutter auch weh tat? Ich war ihr Kind, ich hatte in ihrem Arm gelegen und mit ihren Fingern gespielt, als ich noch zu klein war, um ein Stofftier zu halten.
Sie liebte mich, wie mein Vater sie liebte. Und ich liebte sie. Und so waren wir gefangen in einem Kreislauf aus Liebe und verletzten Gefühlen und wir würden ihn niemals durchbrechen können.
Außer ich fand einen Weg, zu meinen Gefühlen für Alexy zu stehen.
Denn das würde alles sprengen.
Unser gesamtes Gebilde, was sich Familie nannte und auf wackeligen Füßen stand.
Ich schloss die Tür meines Zimmers hinter mir und ging in mein Badezimmer. Meine Nase tat weh und sah gerötet aus, aber ich würde ohne ein Veilchen davonkommen.
Damit kannte ich mich aus, ich hatte in der Akademie unzählige blaue Augen gesammelt.
Mein Ohren klingelten, aber ich setzte mich mit einem erleichterten Seufzen auf mein Bett. Ich hatte erwartet, dass er mich zusammenfalten würde, aber mit Ohrfeigen konnte ich leben.
Doch meine Hoffnung, dass ich meinen Eltern von Alexy erzählen konnte, ohne einen Bruch hervorzurufen, war noch nie so weit in die Ferne gerückt wie durch diesen heutigen Abend.
Mein Vater würde es nie akzeptieren.
Und meine Mutter würde es nicht tun, weil er es nicht tat. Obwohl sie mich liebte, würde sie mir Vorwürfe machen, mir vorwerfen, dass ich das alles nur tat, um meinen Vater zu ärgern. Dass ich sicher „normal" sein könnte, wenn ich es nur versuchen würde. Das ich nicht schwul sein müsste und sicher ein nettes Mädchen finden würde.
Das machte mich traurig.
Ich legte mich lang auf das Bett und streckte die Arme rechts und links aus.
Doch, Mutter! Ich musste schwul sein. Weil meine Natur das einfach so wollte. Und es machte mir nichts mehr aus, denn ich hatte jemanden, der mir das Gefühl gab, dass es gut so war, wie es war.
Ich wollte niemanden mehr, als ich Alexy wollte und ich wollte, das meine Familie wusste, dass ich glücklich war. Zum ersten Mal seit... keine Ahnung, wahrscheinlich das erste Mal überhaupt.
Ich war glücklich, dass ich Alexy hatte.
Ich war unglücklich, weil ich ihn nicht haben konnte.
Wie schon so oft in meinem Leben wünschte ich, ich wäre nicht der Sohn meiner Eltern, würde irgendwer anders sein, jemand, der nicht unter einem neurotischen Vater zu leiden hatte. Jemand, der lieben konnte, wen er wollte.
Denn ich liebte Alexy.
Ich hatte mich bisher nicht getraut, es ihm so direkt zu sagen, aber so war es. Mein letzter Gedanke vor dem Schlafen galt ihm, ich träumte von ihm und freute mich am Morgen, ihn wiederzusehen.
Ich war total verloren. Aber es fühlte sich so richtig an.
Es war das, was ich wollte.
Zum ersten Mal wusste ich, was ich wollte.
Es wurde spät und meine Mutter rief mich nicht zum Abendessen. Mein Vater war offenbar der Meinung, dass ich auch nichts zu Essen verdient hatte. Aber das war mir egal. Ich wollte den alten Sack nicht sehen, denn eine weitere Konfrontation war mir im Moment zuviel.
Ich war halb weggenickt, als es leise an der Tür klopfte.
Es war fast 23 Uhr und meine Mutter öffnete leise meine Zimmertür.
„Kenny, Schatz?"
„Mama..." murmelte ich leise. Eigentlich hatte ich gar keine Lust, sie zu sehen. Aber mein Vater schien im Bett zu sein und sie hatte einen Teller in der Hand.
„Du hast doch bestimmt Hunger, oder?"
„Nein."
„Kentin..." Meine Mutter schloss die Tür und setzte sich neben mich. Sie legte mir die Hand auf den Oberschenkel.
„Dein Vater meint das nicht so, Schatz."
Ich setzte mich auf und sah sie an.
Sie war mal so eine hübsche Frau. Doch in den letzten Jahren war sie alt geworden. Ihre Tränensäcke gingen nicht mehr nur durch Schlaf weg und es hatten sich Falten in ihre Stirn und ihre Mundwinkel eingegraben. Erste graue Strähnen durchzogen ihr nussbraunes Haar, das ich von ihr geerbt hatte und sie war rundlich um die Hüften geworden.
„Er meint es nicht so, wenn er mir ins Gesicht schlägt, mir sagt, dass ich dumm und unnütz bin und mir unterstellt, dass ich auf Männer stehe? Oh sicher, da habe ich sicher all die letzten Jahre was falsch verstanden."
Meine Mutter strich mir die Haare aus dem Gesicht.
„Ich hab dich lieb, Kenny, das weißt du doch, oder?"
„Ja, Mama. Aber das macht sein Verhalten nicht besser..."
Sie nickte und lächelte irgendwie betrübt.
„Es sind die Schmerzen. Sein Knie belastet ihn schrecklich. Er meint es eigentlich nur gut mit dir."
Ich stand auf, denn mir platzte leicht der Geduldsfaden.
„Ok, sein Knie tut also weh... und wenn er mich schlägt, ist das seine Art der Schmerzverlagerung, oder wie darf ich das verstehen? Das ist doch keine Ausrede, um sein Kind zu schlagen!"
Meine Mutter hatte für den Bruchteil einer Sekunde einen sonderbaren Gesichtsausdruck, der aber sofort wieder verflog.
„Nein, da hast du Recht. Und ich wünschte, er würde es lassen. Aber du bist jetzt ein erwachsener Junge und er... er wird alt."
Ich setzte mich wieder zu ihr.
„Mama... sag mal, liebst du ihn?"
Sie nickte.
„Ja. Ja das tue ich. Er... er war nicht immer so wie jetzt. Als du noch ein Baby warst, war er anders. Und er war gut zu mir, als es eine schwere Zeit in meinem Leben gab."
Sie schien nicht weiter darauf eingehen zu wollen, sondern streichelte meinen Kopf.
„Ich hab dich lieb, Kentin. Mehr als alles."
Ich seufzte.
„Mama... kann ich dir was sagen? Aber... du musst mir schwören, es Papa nicht zu sagen, ok? Niemals. Sonst bringt er mich um..."
Meine Mutter sah überrascht und gespannt aus, nickte aber schließlich.
„Ich verspreche es."
„Papa... hat Recht... was mich angeht. Ich..." Ich musste schwer schlucken, denn der Kloß in meinem Hals wurde immer größer.
„Ich bin mit jemandem zusammen... mit... mit einem Jungen."
Ich sah sie nicht an, sondern starrte meine Hände an und meine Mutter sagte eine Weile lang nichts.
„Das... Kentin... das verändert alles. Das... kannst du nicht versuchen, das nicht zu machen? Ich meine... nicht mit einem Jungen zusammen zu sein?"
Ich seufzte.
Ich hatte es gewusst. Sie würde es nicht verstehen. Sie würde rein aus ihrer tiefen Solidarität zu meinem Vater nur das sagen, was er auch sagen würde und deswegen war sie nicht einverstanden damit, dass ich so fühlte.
„Kentin... kannst du nicht versuchen, normal zu sein?"
Ich sprang wieder auf.
„Ich bin  normal, Mama. Nur weil ich einen Jungen mag, bin ich nicht krank oder anders als andere. Versuch wenigstens, es zu verstehen. Ich..."
Meine Mutter schüttelte den Kopf.
„Das ist nicht richtig, Kentin. Ein Junge muss doch mit einem Mädchen zusammen sein. Willst du denn nie Kinder haben? Und eine Familie?"
Eine Familie so wie meine? In der sich die Eltern gegen ihr Kind verschwören und ihm immer wieder das Gefühl geben, nicht dazuzugehören?
„Ich kann auch als Mann Kinder haben. Aber darum geht es nicht, Mama. Ich... ich liebe diesen Jungen. Sollte das nicht eigentlich reichen, damit du das akzeptierst? Er macht mich glücklich, ich fühle mich bei ihm wohl."
Meine Mutter hatte ein schmales Lächeln im Gesicht.
„Mir reicht es, wenn du glücklich bist, egal mit wem. Aber trotzdem ist es irgendwie... nicht richtig... Denk doch daran, was die Leute sagen... und dein Vater... und, ich kann das noch nicht recht glauben... bist du dir sicher?"
Ich sah sie an und versuchte, so ernst wie es mir möglich war, zu schauen.
„Nein, ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich homosexuell bin. Was ich sicher weiß, ist, das mich seine Nähe glücklich macht, dass ich seine Berührung genieße und es liebe, wenn er lacht. Ich will mit ihm zusammen sein, ohne immer Angst zu haben, dass man uns erwischt oder dass man über uns redet."
Meine Mutter schüttelte den Kopf.
„Die Menschen werden immer über solche Menschen reden, mein Schatz."
Solche Menschen, hm? Nett, dass du so denkst... Ich hätte dir das nicht sagen sollen... du verstehst mich genauso wenig wie Papa es jemals wird. Vergiss es einfach. Dann gibt es hier auch kein Donnerwetter. Vergiss es und tu so, als hätte ich dir das nicht gesagt... ich bin ganz normal... alles ist ok, versteck dich ruhig hinter diesen kleinen Lügen."
Ich war verletzt, dass meine Mutter mir so wenig Verständnis entgegenbrachte. Gerade von ihr hätte ich gehofft, dass sie auf meiner Seite war. Mich vielleicht in den Arm nahm und mir sagte, dass es nicht schlimm war, dass ich mich zu einem Jungen hingezogen fühlte.
Verstand denn wirklich niemand, wie verwirrt ich war?
Dass ich jemanden brauchte, dem ich mich anvertrauen konnte, dem ich erzählen konnte, wie hin- und hergerissen ich war, weil ich eigentlich immer dachte, dass ich normal ticken würde?
„Kentin..."
„Lässt du mich jetzt bitte allein, Mama?"
Sie stand auf und nickte.
„Iss deine Brote, Schatz. Und... ich behalte es für mich. Ich bin vielleicht nicht gerade begeistert von deinen Gefühlen, aber wenn es dich glücklich macht..."
„Danke..."
Sie schloss die Tür hinter sich und ich stellte meinen Wecker. Nur in Shorts krabbelte ich unter meine Bettdecke und verzehrte eines der Butterbrote, während ich mit meinem Handy spielte.
Beim Durchzappen meiner Bilder blieb ich bei einem von Alexy hängen, dass ich den einen Tag im Geografieraum gemacht hatte.

Lieb' mich nicht! [AS]Where stories live. Discover now