Prolog

761 19 10
                                    


Liebe macht Trauer erst möglich.

-Esther Klepgen, Autorin


Gedankenversunken stand ich vor einem Haus. Nein. Es war kein Haus. Es war ein Monstrum. Ein Monstrum, in dem viele Menschen leben konnten. Menschen wie ich. Ja, ich lebte in diesem Block. Doch nicht mehr lange. Meine Freunde, die mit mir hier vor diesem Gebäude standen, waren still. So still wie ich. Sie wussten, was passiert war. Sie wussten, was mich verändert hatte, wer mich verändert hatte. Einer der Jungen saß mit einer Mütze auf der Mauer. Mein Bruder stand mir gegenüber. Wir schwiegen noch immer. Sehnsüchtig sah ich hoch zu einem Fenster. Es war besonders. Der Raum war besonders. Das, was dort passiert war, war besonders. Ich setzte mich auf den Boden. Mein Freund, Martin, kam neben mich. Nur Heinrich fehlte. Mein Bruder lehnte sich auf meiner anderen Seite gegen die Mauer, auf der wir saßen. Sie warteten darauf, dass ich etwas sagte. Was sollte ich sagen?

Als noch immer Stille herrschte, standen wir auf und gingen den Weg entlang. Ich dachte daran, was wir getan hatten. Es kam mir sinnlos vor. Man erkannte es an meinen roten Augen. Auch viele Schlägereien hatten wir gemacht. Nicht zur Verteidigung. Nein. Geistige Schlägereien. Aber das war nicht das Problem.

Es geisterte mir die ganze Zeit durch den Kopf. Es. Meine Gedanken waren voll damit. Die Häuser, an denen ich vorbeiging, nahm ich nur in meinem Unterbewusstsein wahr. Das waren keine Entzugserscheinungen. Oder? Die größere Frage war: Wie konnte ich es nur getan haben? Mir war nie aufgefallen, wie ich gewesen war. Ich hatte meinen größten Schatz verloren.

Ich bog bei einer Straße ab und verließ meine Freunde. Konnte ich sie so nennen? Konnte ich sie wirklich so nennen nach dem, was passiert war? Wollte ich sie überhaupt meine Freunde nennen?

Eigentlich war es nicht ihre Schuld. Sie hatten nichts falsch gemacht. Nein. Ihr ganzes Leben war falsch, aber dennoch war es nicht ihre Schuld. Ich hingegen war an meiner Lage schuld. Und auch an meinem missratenen Leben. Ich wollte nicht glauben, dass es die Liebe gab. Nein. Ich wollte es einfach nicht. Dennoch konnte ich nicht anderes. Ich wusste es. Und dafür könnte ich... Ja, was könnte ich? Ich war ein Mensch. Ein Mensch, der einen Pakt geschlossen hatte. Diese Person, auf die ich mich eingelassen hatte, war der Beweis, dass es die Liebe geben musste.

Zu allem musste es ein Gegenstück geben. Auch zu dieser Person. Oh ja, auch zu mir gab es ein Gegenstück. Sie. Das Mädchen, das so anders war als ich und das ich ins Verderben geschickt hatte. Sie war nur wegen mir im Verderben gelandet. Wegen mir und dem Pakt.

Mit meiner Kapuze auf dem Kopf lief ich Treppen hoch. Treppen, die zu den Räumen führten. Entfernt hörte ich das Quietschen der Stühle. Der Boden war leicht staubig. Seltsam. Das war komisch für diesen Ort. Ich kannte mich hier aus. Hier herrschte Verderben. Das Verderben, das auch für das Mädchen herrschte. Sie. Und hier wollte niemand leben. Niemand von uns.

Ich sah die Brückenhalterungen. Die, die zu ihr führten. Ohne zu zögern bog ich in die erste Abbiegung ein. Ich kannte den Weg. Es war dunkel. So dunkel wie immer. So dunkel wie meine Seele. Ich machte ein Licht an, um nicht zu stolpern. Vor mir sah ich den marmornen Gang. Überall auf dem Boden lagen Brocken. Brocken aus eben diesem Gestein.

Ich kam ihr immer näher. Ihr. Vor mir erstrahlte der Raum. Es war nicht der Raum, aber es war ein besonderer Raum. Ebenso besonders wie der Raum hinter dem Fenster. Ich lief weiter die Treppen nach unten. Hier leuchtete ein ganz anderes Licht. Ein Licht, das es in meiner Welt nicht gab. Nicht mehr. Das hier war nicht die Welt, aus der ich kam. Als ich ganz unten angekommen war, ging ich weiter dem Ursprung des Lichts entgegen. Ich sah eine Gestalt. Ich sah ihre Silhouette. Ich wusste, wer es war. Er. Er sah aus wie ein normaler Mann. Sein Blick war dem Licht zugewandt, das zwischen dem Gestein herausleuchtete. Er wusste, dass ich da war. Dennoch drehte er sich nicht um. Ich blieb auf einer Treppe stehen. Ich hatte gewusst, was passieren würde. Deshalb stand ich, wo ich stand. Meine roten Augen konnten kein Wasser mehr vergießen. Doch ich würde sie noch einmal aufsuchen.

Warum nur hatte sie sich für ihn entschieden und nicht für mich?

Eliza Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt