Kapitel 1

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1. Dezember

Die Nervosität ist auch eine Leidenschaft, die sich nicht jeder leisten kann.

-Wilhelm Schlichting (Schriftsteller und Verleger)

Kikariki!!! Genervt öffnete ich die Augen. Ich wusste genau, welcher Tag heute war. Heute war mein Geburtstag. Und nicht nur das- es war mein sechzehnter Geburtstag. Es würden viele Leute kommen. Zu viele Leute. Genervt von diesen Aussichten drehte ich mich auf die linke Seite und wollte weiterschlafen, als meine Zofe den Raum betrat. ,,Aufstehen, Mylady." Ich ignorierte sie demonstrativ. Innerlich wusste ich, dass es nicht Caras Schuld war, dass ich mich schönmachen lassen musste, um einen Haufen hirnloser Adeliger zu treffen, aber es war meine Pflicht als einzige Nachkommin meines Vaters. Cara lief durch das Zimmer und öffnete die Fenster und Vorhänge. Sofort kniff ich meine Augen zusammen. Musste sie das immer machen? Ich war gerade dabei, mir die Bettdecke über den Kopf zu ziehen, als meine Zofe mir eben diese wegzog. Die kalte Luft, die durch meine Fenster kam, ließ mich frösteln und ich zog meine Beine an mich. Das war ja ein toller Geburtstag. Dennoch stand ich auf und lief schnell in das beheizte Bad.

Da meine Familie ebenfalls von adeliger Abstammung war, konnten wir es uns leisten, Bedienstete zu bezahlen, die den Ofen immer am Laufen hielten. Andere würden jetzt sagen: ,,Es ist Umweltverschmutzung, wenn man Holz verbrennt! Die armen Bäume! Die hatten doch auch ein tolles Leben." Mir war das ziemlich egal. Immerhin gab es keine andere Möglichkeit, Licht und Wärme zu machen. In solchen Situationen war ich in den Augen der normalen Bevölkerung bestimmt eingebildet oder wie auch immer diese Arbeiter es nennen wollten. Dennoch musste ich sagen, dass in meinen Augen Pflanzen ganz und gar keine Lebewesen waren. Sie konnten sich weder bewegen, noch untereinander kommunizieren.

Cara trat stolz von ihrem Werk zurück und betrachtete mich im Spiegel. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich endlich das viel zu enge, hellblaue Kleid an und war geschminkt und frisiert. Es gefiel mir nicht, so auszusehen und, was viel wichtiger war, keine Luft zum Atmen mehr zu haben, aber für meinen Vater war das eher nebensächlich. Er musste ja keine Kleider tragen.

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr bemerkte ich, dass es Zeit wurde, um im Essenssaal zu erscheinen. Seufzend dankte ich meiner Zofe und zog mir Schuhe an, die bereits bereitgelegt waren. Wie so oft fragte ich mich, wofür man unbequeme, viel zu hohe Schuhe anziehen musste, wenn man sie unter dem bodenlangen Kleid nicht sehen konnte.

Als ich die sich unendlich ziehende Treppe runterstieg, bemerkte ich, dass ich deutlich zu selten Schuhe mit Absatz trug. Normalerweise wäre ich schon längst unten angekommen, aber so würde das wahrscheinlich nichts werden. Als ich gerade bei der Hälfte angekommen war, sah ich mich um, um zu sehen, ob jemand mich bei meiner, deutlich undamenhafter Aktion erwischen könnte. Mein Vater würde nicht sauer sein, aber es gab genug andere Menschen, die mir auf den Keks gehen würden.

Als ich aber niemanden bemerkte, zog ich mir schnell die Mörderschuhe aus und rannte die Treppe runter. Das war keine gute Idee gewesen. Nicht nur hatte ich vergessen, dass ich ein Korsett unter meinem Kleid anhatte, das mir jegliche Atemmöglichkeit nahm, sondern vor mir standen nun auch ziemlich viele Menschen, die ich noch nie gesehen hatte. Zumindest nahm ich das an. In meinem Kopf war auf jeden Fall keine Spur mehr von so einer Horde zu finden. Diese jungen Leute kamen gerade durch die Eingangstür und es war schon zu spät, um sich unbemerkt die Schuhe wieder anzuziehen oder unauffällig zu verschwinden. Wohl oder übel würde ich mir später doch noch eine lange Rede über das Verhalten von jungen Damen anhören müssen. Da es sowieso egal war, was ich nun tun würde, richtete ich mich auf und drückte meine Schultern nach hinten. Außerdem setzte ich einen kalten Blick auf. Viele Leute bewunderten mich, weil ich so alle Menschen abschrecken konnte, aber um ehrlich zu sein machte mich diese Truppe ziemlich nervös.

Ich bemerkte, dass einer aus der Gruppe, der ganz am Rand neben ein paar anderen muskelbepackten Männern lief, mir direkt in die Augen sah. Das machte mich zwar nur noch nervöser, aber mein Blick verhärtete sich dadurch nur. Innerlich klopfte ich mir auf die Schulter. Zumindest sah man mir von außen nicht an, wie ich mich tatsächlich fühlte. Als ich meinen Blick weiterhin über die Menschen schweifen ließ, fiel mir auf, dass es eine reine Männergruppe war, bei der jeder vor lauter Muskeln triefte. Außerdem war der Typ am Rand nicht der einzige, der mich ansah. Mein Gehirn schrie mir zu: ,,Lauf!" Wenn ich das aber jetzt täte, würden sie mich kriegen. Außerdem hatte ja niemand gesagt, dass sie unbedingt zu mir wollten. Das versuchte ich mir einzureden. Mein Gesichtsausdruck war aber nicht mehr so unantastbar, wie er sein sollte.

Als sie endlich zum Stehen kamen, bemerkte ich erst, wie tief mein Ausschnitt war. Dank der Schminke bemerkte aber glücklicherweise niemand, dass ich rot anlief. Einer, der schwarze Haare und blaue Augen hatte, sprach mich an: ,,Wissen Sie zufälligerweise, wo sich der Herr des Hauses befindet?" Erleichtert atmete ich aus. Offensichtlich wusste er nicht, wer ich war. Deshalb machte ich einen kleinen Knicks, den ich schon oft bei Cara gesehen hatte und antwortete: ,,Sie müssen nur dem Gang folgen und der Raum befindet sich hinten rechts, meine Herren." Ich war mir nicht sicher, ob sich das nach einer normalen Bediensteten angehört hatte und der Mann runzelte auch kurz die Stirn, aber dann bedankte er sich und drehte sich mit seinem Gefolge um. Schon wieder wollte ich aufatmen, aber ich bemerkte noch, wie der Typ, der an der Seite gegangen war, sich verzögert umdrehte und anschließend auch ging.

Hätte ich da nur schon gewusst, wer diese Leute waren.

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An Shayaamara86 gewidmet, weil sie eine hervorragende Autorin ist, die auch Historische Romane schreibt.


Eliza Where stories live. Discover now