Die Auswahl

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Die Fahrt über den See verging meiner Meinung nach viel zu schnell. Schon nach fünf Minuten gleiten die Boote, eines nach dem anderen, durch einen dunklen Höhleneingang. Drinnen ist es dunkel und nur ein helles Licht am Ende der Höhle leuchtet den Booten ihren Weg. Es ist ganz still, man hört nur die gedämpften Stimmen von zwei Schülern, die sich miteinander unterhalten.

Die Boote fahren auf das grelle Licht zu, bis wir einen dumpfen Schlag hören, und das Boot an festem Untergrund ankommt. "Aussteigen. Und passt auf, dass ihr nicht ins Wasser fallt.", ruft Hagrid, als im selben Moment ein zierlicher Junge ins Stolpern gerät und ohne Hagrids Hand, die sich so groß wie ein Mülleimerdeckel um den Arm des Jungen schließt, ins unheimlich schwarze Wasser gefallen wäre.

Wir folgen Hagrid durch eine große Eisentür, wie die Entenkinder ihrer Mutter. Er führt uns durch mehrere Gänge. Hier unten riecht es nach Moder und kalte Schauer jagen mir über den Rücken. Hier ist es sehr unheimlich, ob es nun daran liegt, dass ich Angst vor Mäusen habe oder, dass hier vielleicht noch andere Geschöpfe leben könnten. Doch ich will nicht als Angsthase gelten und laufe deshalb so aufrecht und selbstbewusst wie möglich weiter.

Ganze drei Minuten liegt Schweigen und Dunkelheit über uns, bis wir in der Ferne ein Licht entdecken. Kurz darauf stehen wir in einem Raum, ein ziemlich kleiner Raum, in den wir uns mehr schlecht als recht reinquetschen. "Hinter dieser Tür hier", Hagrid zeigt mit dem Daumen über die Schulter, "ist die große Halle.". Er macht eine spannungsvolle Pause. "Ich gehe nun in die Halle, um die Auswahl mitverfolgen zu können. In wenigen Augenblicken kommt dann Mrs. Mason und bringt euch in die große Halle.".

Hagrid verlässt den Raum und kaum, dass er aus der Tür ist, fangen alle an, laut miteinander zu reden. Ich höre Gesprächsfetzen wie "Oh mein Gott, was stand noch mal im Verwandlungsbuch auf Seite 302?" oder "Ich habe so lange geübt, aber ich kann immer noch keinen Gegenstand gelb färben.". Ich muss schmunzeln. Genau das hat Dad mir vorausgesagt. Viele Schüler, vor allem die aus Muggelfamilien, machen sich Sorgen, was in der Auswahl von einem verlangt wird. Er selbst hatte damals höllische Angst davor.

Plötzlich trifft mich etwas an der Seite. "Oh, tut mir leid.". Ein braunhaariges Mädchen sieht mich aus blauen Augen entschuldigend an. Ich galt schon immer als sehr geselliger Mensch, aber dass ich alle Menschen geradezu anziehe, ist mir neu.

Das mir gegenüberstehende Mädchen mustert mich aufmerksam. Die an den Decken schwebenden Kerzen lassen ihr Licht auf das Gesicht des Mädchens fallen und nun erkenne ich sie. Es ist eine des Zwillingspaares, mit welchem ich und Ruby uns ein Boot geteilt haben. Sie ist anscheinend zu dem Schluss gekommen, dass ich ganz in Ordnung aussehe, denn in diesem Moment hört sie auf, mich zu betrachten und sagt: "Lucas hat mich geschubst. Er glaubt, er könne alles mit mir anstellen, nur weil er 17 Sekunden älter ist, als ich." Sie streckt mir ihre Hand entgegen. "Ich bin übrigens Summer. Summer Lansbury.". Ich schüttle ihre Hand. "Ich heiße Lily Potter.". Ich muss nur einen Satz sagen, damit ihre Augen so groß werden, dass ich Angst habe, sie könnten rausfallen.

"Ich habe schon viel von deinem Dad gehört.", meint Summer. Ehrfurchtsvoll flüsternd fügt sie hinzu: "Hat er nicht Du-weißt-schon-wen erledigt?". Ich nicke. "In der Familie nennen wir ihn Voldemort.". Bei dem Namen zuckt sie erschrocken zusammen. "Die Angst vor dem Namen steigert nur die Angst, vor der Person selbst. Außerdem kann er dir nichts mehr antun, wenn du seinen Namen nennst, weil er schon tot ist.", erkläre ich. "Er könnte auch von bösen Geistern wiederbelebt...". Eine Frau, die durch die Tür kommt, unterbricht Summer.

Mir kommen Hagrids Worte in den Sinn und ich bin mir sicher, dass Mrs. Mason vor uns steht. "Hallo, meine Lieben. Ich bin Professor Mason und ich unterrichte Kräuterkunde, sowie Verwandlung. Außerdem bin ich die stellvertretende Schulleiterin und Leiterin des Hauses Hufflepuff. Wenn ihr mir nun folgen würdet, ich bringe euch in die große Halle, wo ich den Namen jedes einzelnen von euch aufrufen werde, und jeder, den ich aufgerufen habe, setzt sich dann auf einen Stuhl, nahe des Lehrertisches und wird sogleich einem Haus zugeteilt.", sagt sie in bestimmtem, aber ruhigem und gelassenem Ton.

Als wir die große Halle betreten, höre ich viele "Ah's" und "Oh's". Alle blicken erstaunt an die Decke, an der der sternenübersäte Abendhimmel von draußen dargestellt wird. Überall schweben Kerzen und wie wir so durch den Gang zwischen dem Hufflepuff- und dem Ravenclawtisch entlanggehen, fällt mir auf, dass uns sehr viele Gesichter ansehen. Nun werde ich aufgeregt. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen.

Kaum sind wir vorne angekommen, holt Professor Mason eine Liste hervor und stellt einen storchbeinigen Hocker vor den Lehrertisch. Darauf liegt der Sprechende Hut. Wie es Tradition ist (mein Dad hat es mir erzählt), studiert der Hut über die Sommerferien ein kleines Lied ein, welches er bei der Auswahl singt, so auch jetzt.

Nach dem Lied beginnt Professor Mason: "Ashton, Phoebe." Ein kleines Mädchen mit blonden Haaren geht nach vorn und setzt sich mit zitternden Händen den Hut auf. Schon bevor der Hut ihr ganz über den Kopf gerutscht ist, ruft er: "Hufflepuff". Nach vielen Schülern wird Lucas Lansbury aufgerufen, der Bruder von Summer. Er wird sofort nach Gryffindor geschickt. Auch Summer, die danach an der Reihe ist, kommt nach Gryffindor.

Ich versuche, mir die Namen meiner Mitschüler gut zu merken, und verpasse so fast, in welches Haus Ruby gesteckt wird. "Longbottom, Ruby". Longbottom? Habe ich das nicht schonmal irgendwo gehört? "Gryffindor" ruft der Hut in diesem Moment und Ruby rennt zum entsprechendem Tisch. Ich höre noch, wie sie "Dann komme ich wohl doch nach meinem Dad." sagt, als der blondhaarige Junge aus dem Zug aufgerufen wird. Mist, jetzt habe ich seinen Namen nicht gehört. Ich könnte mich gerade selbst ohrfeigen, komme aber nicht dazu, weil ich nun selbst nach vorn muss. "Potter, Lily.".

Plötzlich wird es in der Halle ganz ruhig und ich spüre alle Blicke auf mir. Nur, weil ich einen berühmten Vater habe? War das bei Albus und James genauso? Ich gehe nach vorn und begegne dem Blick meines Vaters. Er lächelt mir unauffällig zu. Ich lächle zurück und nehme den Hut vom Hocker und setze ihn mir auf den Kopf.

"Ah, eine Potter.", schnurrt eine Stimme in mein Ohr. "Zwei Jahre ist's her, seit ich deinen Bruder nach Gryffindor geschickt habe und nochmal zwei Jahre, als ich auch deinen anderen Bruder zu den Gryffindors gesteckt habe. Doch solltest du auch dahin?" Am liebsten würde ich nicken, aber ich habe Angst, dass dann der Hut herunterfallen würde. "Sicher, du bist hilfsbereit, aber zu Hufflepuff passt du nicht.", spricht er weiter. "Du bist auch sehr klug, aber andere Eigenschaften, zum Beispiel die Abenteuerlust in dir, überdecken das. Du würdest sehr gut nach Slytherin passen. Du erinnerst mich an deinen Vater. Er hätte auch nach Slytherin kommen sollen, war aber dagegen." Dad hat uns nie erzählt, was der Hut an seinem ersten Tag in Hogwarts gesagt hat. Er hat auch nie erwähnt, dass er nach Slytherin sollte. "Ja, dein Vater war zu feige, euch zu sagen, dass er in Slytherin sehr gut aufgehoben worden wäre. Er glänzte mit seinen guten Taten, nicht mit seinen schlechten. Er hätte die perfekten Fähigkeiten gehabt, um nach Slytherin zu kommen, doch Rowena Ravenclaw, eine der vier Gründer von Hogwarts, hat mich geschaffen, in dem Wissen, dass ich die Schüler selbst entscheiden lasse, in welches Haus Sie kommen. Denn es sind nicht unsere Fähigkeiten, die zeigen, wer wir sind, sondern die Entscheidungen, die wir treffen, wie selbst Rowena schon sagte." Der Hut legte eine Pause ein und ich fragte mich, warum Dad uns nie etwas davon erzählt hat und ob die Auswahl bei irgendjemandem auch solange gedauert hat, wie jetzt bei mir. Ich wünschte, ich würde nach Gryffindor kommen. Dort sind alle Menschen, die ich bisher kennengelernt habe und mit denen ich vielleicht eine Freundschaft führen könnte. Und dort ist und war bisher meine ganze Familie. "Meine Entscheidung ist gefallen.", flüstert der Hut. "Du kommst nach GRYFFINDOR". Das letzte Wort brüllte er durch die ganze Halle.

Ich springe glücklich auf und gehe hinüber zum Gryffindortisch, wo ich freudig begrüßt werde. "Wir haben auch noch die dritte Potter.", ruft jemand. Als ich mich setze, sehe ich hoch zum Lehrertisch. Mein Dad lächelt mich an - jetzt nicht mehr unauffällig. Doch ich kann dieses Lächeln nicht erwidern und grübele über die Worte des Sprechenden Hutes nach, bis auch Alice Winston nach Ravenclaw kommt.

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Hallo,
hier ist jetzt mal ein extra langes Kapitel. Vielleicht könnt ihr euch jetzt denken, welche Eltern Ruby hat 🤔
Außerdem wollte ich euch für 65 Reads danken und nochmal andeuten, dass manche von den auch nur erwähnten Charakteren eine große Rolle übernehmen werden.
Außerdem habe ich, wie ihr vielleicht bemerkt habt, ein Zitat in die Geschichte eingebaut. Ich glaube, dass Dumbledore es mal gesagt hat, aber ich habe dem Zitat einen neuen Ursprung gegeben, ich hoffe das ist nicht schlimm.
Noch viel Spaß beim Lesen wünscht

Eure Vilureef

Die Tochter Harry Potters Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt