Zufälle und Unfälle

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Es ist noch nicht so wirklich zu mir durchgesickert, dass Summer ein Werwolf ist. Ich verstehe sie jetzt zwar besser und kann alles, was sie in der letzten Zeit getan hat, besser nachvollziehen. Aber der Grund dafür will sich einfach nicht bis in mein Bewusstsein wagen. Es fühlt sich alles an wie ein Traum, so unrealistisch und gar nicht in diese Welt hineinpassend.

Aber dann, in der darauffolgenden Woche wird es mir plötzlich klar. Ein Werwolf besucht Hogwarts! Er geht in dasselbe Haus wie ich! Er schläft im selben Schlafsaal wie ich! Und er ist sogar mit mir befreundet! Die Gefühle überrollen mich so jäh, dass ich nicht mal dazu komme, sie zu verstecken.

Am Mittwoch in Verwandlung breche ich in Tränen aus. Erst schniefe ich nur leise vor mich hin. Aber als Ruby mich fragt, ob ich erkältet sei und ein Taschentuch brauche, bahnen sich die Tränen ihren Weg und fließen an meinen Wangen herunter, wie winzige Wasserfälle. Die ganze Klasse dreht sich zu mir um. Ich hasse es, im Mittelpunkt zu stehen. Wieso starren mich alle an, anstatt auf die überaus interessante Feder zu achten, die Professor Mason gerade durch den Raum schweben lässt?

"Alles in Ordnung, Miss Potter?", fragt mich unsere Lehrerin für Verwandlung. Ich schüttele den Kopf und bringe kein Wort heraus. Die ganze Situation ist mir unangenehm. Und ich weiß ohnehin nicht, was ich hätte sagen können. Professor Mason sieht mich lange an und ich versinke immer tiefer in meinem Stuhl. Warum kann sich der Boden jetzt nicht auftun und mich einfach verschlingen?

Schließlich nickt der Professor und sagt: "Okay. Am besten, Sie gehen jetzt erstmal vor die Tür, um sich zu beruhigen. Wenn sie sich beruhigt haben, können Sie ja leise wieder reinkommen und sich auf Ihren Platz setzen.". Ich stehe auf und laufe zur Tür. Als ich sie hinter mir schließe, kann ich den Blick auf drei besorgten Gesichtern erhaschen. Ruby und Scorpius, die sich sicher fragen, was mit mir los ist. Und Summer, die ganz genau weiß, was in meinem Kopf vor sich geht.

Vor der Tür denke ich viel nach. Mir wird klar, dass ich keine Angst vor Summer habe. Sie kann nichts dafür, so zu sein, wie sie nunmal ist. Und wenn ich nicht wüsste, dass sie ein Werwolf ist, würde ich mich in ihrer Gesellschaft auch nicht fürchten oder anders zu ihr sein, als nun, wo ich es weiß. Ich habe keine Angst, nur weil Summer anders ist. Doch genau das ist die Gewohnheit des Menschen. Sobald man etwas Unbekanntes vor sich hat und nicht weiß, was man tun soll, greift man zur ersten Möglichkeit: es wegzuschaffen.

Der Gong der Schulglocke bringt mich zurück in die Realität. Ich renne in den Raum, in dem schon alle aufgesprungen sind und ihre Sachen zusammenpacken, hole mir meine Schultasche und renne zum nächsten Unterrichtsraum. Wir haben jetzt Verteidigung gegen die dunklen Künste, aber ich bin nur hier, um mich bei Professor Wadington abzumelden, denn ich weiß, dass ich mich im Unterricht sowieso nicht konzentrieren können würde.

Zum Glück steht die Tür zum Raum offen und ich schlüpfe hinein. Professor Wadington steht mit dem Rücken zu mir und wühlt in seiner Aktentasche herum. "Professor Wadington?", sage ich. Er dreht sich erschrocken um und legt sich die rechte Hand aufs Herz. "Lily, haben Sie mich aber erschreckt!". "Ich will Sie gar nicht lange aufhalten, Sir, aber mir geht es nicht so gut und ich wollte Sie fragen, ob ich für diese Stunde vielleicht frei haben könnte?", frage ich ihn.

Er nickt. "Sind Sie sich sicher, dass Sie nicht in den Krankenflügel wollen?", fragt er zögernd. Ich nicke und murmele noch ein leises "Danke", bevor ich schnellstmöglich aus dem Raum flüchte. Ich will hier weg, bevor meine Mitschüler kommen und mich sehen. Ich habe keine Lust, dass sie Fragen stellen. Und Mitleid brauche ich auch nicht. Ich will nur raus, an die frische Luft, alleine sein und nachdenken können!

Ich gehe mehrere Korridore entlang und ein paar Treppen hinunter. Danach steige ich die Marmortreppe hinunter und gehe durch die Eingangshalle, bis ich draußen an der frischen Luft bin. Ich laufe weiter, ohne wirklich darauf zu achten, wohin mich meine Beine tragen. Ich gehe vorbei am See und an den Gewächshäusern. Nicht weit von Hagrids Hütte entfernt setze ich mich dann auf einen Baumstumpf.

Ich sehe hinauf in den Himmel und frage mich sogleich, wann eigentlich das nächste Mal Vollmond ist. Und sofort sind meine Gedanken wieder bei Summer. Ich frage mich, wie ihre Familie damit umgeht. Und ob sie schonmal jemanden gebissen hat. Außerdem frage ich mich, wie sehr es für sie weh getan hat, als sie damals mit acht Jahren gebissen wurde. Sie selbst hat zwar gesagt, dass sie die Schmerzen gerne angenommen hat, weil ihr Bruder im Gegenzug verschont blieb, aber das kaufe ich ihr nicht ab.

Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich mich einfach bei Lucas entschuldigen würde. Denn ich fühle mich selbst ein bisschen schuldig. Immerhin habe ich ihn provoziert, indem ich Fragen gestellt habe, die mich eigentlich gar nichts angehen. Mir war ja nicht klar, was ich damit anstellen würde. Ich konnte nicht wissen, was sich alles in der
Vergangenheit der Zwillinge abgespielt hat.

Durch ein "Plumps" werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich drehe mich um und sehe, wie sich etwas Rundes und weich Aussehendes bewegt. Ich stehe auf und gehe vorsichtig näher heran. Plötzlich steht das Etwas schwungvoll auf und schaut mich aus großen Augen an. Jetzt erkenne ich auch, was es ist: eine Eule!

"Alles in Ordnung mit dir?", frage ich. Aber auf eine Antwort hoffe ich nicht. Eher auf einen Hinweis, der mir verraten könnte, zu wem die Eule gehört, wohin sie fliegen wollte, warum sie nun hier steht, vor mir oder wieso sie nicht einfach woanders ist als bei mir. Auf einen Hinweis, der mir eine dieser Fragen beantworten kann. Oder alle.

Und dann sehe ich ihn. Ein Brief! So schnell wie möglich versuche ich, die kleine Rolle vom Bein der Eule zu befreien, aber ich habe Angst, sie damit weiter zu verletzen und komme deshalb nur langsam voran. Als ich den Brief endlich in Händen halte, sind gefühlte Stunden vergangen. Ich entferne das Band, mit dem der Brief zusammengehalten wurde und rolle ihn auseinander. Dann beginne ich, zu lesen:

Liebe Rose,
ich hoffe, dieser Brief erreicht dich so schnell wie möglich. Ich wollte eigentlich eine andere Eule nehmen, du weißt ja, wie tollpatschig Rudy manchmal sein kann, aber ich habe leider keine andere gefunden. Deshalb ist meine Hoffnung umso größer, dass du den Brief überhaupt erhältst und Rudy nicht unterwegs vom Weg abgekommen ist. Ich bin gerade im St. Mungo bei deiner Mum. Sie liegt hier neben mir und schläft. In der letzten Nacht hatte sie viel Stress. Wir waren unseren Hochzeitstag feiern und haben in einer Bar getanzt und Cocktails getrunken. In einem Getränk muss etwas Giftiges gewesen sein, denn plötzlich hat deine Mum angefangen zu würgen. Ich bin gleich mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Es ist nochmal alles gut gegangen, aber ich wollte dir Bescheid geben. Es ist besser so, als wenn du es in der Schule erfahren musst. Onkel Harry weiß auch schon Bescheid, aber ich habe ihn gebeten, dass er erst mit dir redet, wenn du diesen Brief hier gelesen hast. Wir haben im Aurorenbüro angerufen und den Barkeeper verdächtigt, dass er das Gift in das Getränk getan hat. Sicher wissen wir es nicht und der Mann konnte auch nicht aufgefunden werden. Mach dir nicht zu viele Sorgen, deiner Mum geht es gut. Bitte erzähl Hugo auch davon, wenn du das hier gelesen hast.
Ich habe euch beide ganz doll lieb.

Dad

Fassungslos starre ich auf das Blatt Papier. Das kann doch wohl jetzt nicht wahr sein. Tante Hermine liegt im Krankenhaus, weil sie vergiftet wurde? Doch das Nächste, was mir in den Sinn kommt, ist, dass ich wirklich Glück gehabt habe. Wenn Rudy jemand anderem in die Finger geflogen wäre, könnte die Situation jetzt schon ganz anders aussehen. Aber Rudy ist nunmal mir in die Finger gekommen. Aber das auch nur, weil ich vom Unterricht befreit bin. Und das, weil es mir nicht so gut ging. Weil Summer mir erzählt hat, sie wäre ein Werwolf. Das Leben besteht auch nur aus Zufällen und Unfällen.

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Hey,
ich melde mich jetzt auch mal wieder ✨
Erstmal ein großes Dankeschön für die 462 Reads und 56 Votes 💞
Ihr seid einfach unglaublich!
Und jetzt mal eine Frage: Wie findet ihr es, dass Hermine jetzt im Krankenhaus liegt? Und wer glaubt ihr, wollte sie vergiften? Meint ihr, es war der Barkeeper? Und wenn ja, wer meint ihr, war der Barkeeper? Okay, das war jetzt ein bisschen verwirrend 🙈
Ich freue mich über Kommentare und Kritik 💎

Eure Vilureef

Die Tochter Harry Potters Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt