Teil 7 - Tiefe Wunden

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Am nächsten Morgen ritten sie weiter auf dem Weg nach Ard Carraigh. Die Straße war über Nacht ein wenig getrocknet, sodass sie nun nicht mehr ständig Schlammpfützen ausweichen mussten, sondern recht gut voran kamen.
Eskel, der nur einen leichten Schlaf hatte, hatte in der Nacht bemerkt, dass Thalia sich oft unruhig regte. Sicherlich machten ihr noch die Erlebnisse des letzten Abends zu schaffen. Eskel hatte überlegt, sie zu wecken, damit sie nicht länger in ihren schlechten Träumen gefangen war, doch sie hatte sich schnell wieder beruhigt und dann tief und friedlich weitergeschlafen.
Nun schien sie wieder recht guter Dinge zu sein, ritt auf Arenaria, wie sie ihre zuvor namenlose Stute mittlerweile genannt hatte, neben Eskel und plauderte munter mit ihm. Wobei dieser sich nicht sicher war, ob sie sich wirklich schon wieder unbeschwert fühlte oder das Erlebte einfach nur verdrängte.
"... Die ersten Nächte unter freiem Himmel haben mir schon etwas zu schaffen gemacht. Jeden Morgen fühlte ich mich wie gerädert. Aber mittlerweile hat sich mein Rücken wohl an den Boden gewöhnt. Als Hexer seid Ihr ja bestimmt ständig auf Reisen und es gewohnt, auf Komfort zu verzichten. Aber für eine Laborhexe wie mich ist das schon eine ganz schöne Umstellung..."
"Laborhexe?"
"So nennt man uns Alchemistinnen hinter vorgehaltener Hand an der Akademie." Sie warf ihm ein Lächeln zu. "Und in den letzten Jahren traf das auf mich wohl ganz besonders zu. Ich habe die meiste Zeit im Labor oder in der Bibliothek zugebracht. Wurde höchste Zeit, einmal wieder raus zu kommen und die echte Welt zu sehen. Wenn man immer nur in der Stadt lebt verliert man schnell den Blick für die Sorgen und Nöte der Menschen außerhalb. Und auch für die Schönheit der Natur. Und gerade Alchemisten sollten die Natur zu schätzen wissen."
"Das ist wohl wahr. Aber wie eine Hexe wirkt ihr trotzdem nicht."
"Wie meint Ihr das?"
"Naja, Hexen oder besser gesagt Zauberinnen sind eine Klasse für sich. Und das ist nicht immer positiv gemeint."
"Kennt Ihr viele Zauberinnen?"
"Ein paar. Die meisten, denen ich bisher begegnet bin, tun ihr bestes, ihrem Ruf gerecht zu werden: Sie sind eigennützig, launisch und arrogant. Aber vielleicht wird man auch einfach so, wenn man mit einer Geste und einem Spruch ein ganzes Haus zum Einsturz bringen kann... Eine Zauberin, die von der Norm abweicht, ist Triss Merigold. Sie ist die einzig freundliche Vertreterin ihres Berufsstands, die ich kenne."
"Triss Merigold... Ich glaube, ich habe sie einmal in Oxenfurt gesehen... Sie hatte langes, rotes Haar und war atemberaubend schön..."
Eskel lächelte. "Ja, das ist Triss. Sie besucht uns Hexer manchmal in Kaer Morhen."
"Kaer Morhen?"
Eskel zögerte. Dann entschied er, dass es nicht schaden würde, Thalia von der Festung zu erzählen. Hexergeheimnisse hin oder her, aber er hatte das Gefühl, dass schon so viele Menschen von der Existenz der Festung wussten - eine Person mehr oder weniger machte da keinen Unterschied mehr...
"Das ist sozusagen die Heimstatt der Hexer der Wolfsschule. Wenn im Winter die Aufträge rar werden, verbringen wir meistens ein paar Monate dort. Es ist schön, dann bekannte Gesichter wiederzusehen, wenn man das ganze Jahr über ständig unterwegs ist. Die meisten Menschen würden es vielleicht nicht für möglich halten, aber auch Hexer mögen es, Zeit mit Freunden zu verbringen. Und Triss' Anwesenheit ist eine willkommene Abwechslung, wenn man wochenlang nur zwei andere Hexer als Gesellschaft hatte..."
Es kam Thalia so vor, als würde Eskel der Zauberin Merigold gegenüber mehr als nur Freundschaft und Respekt empfinden, so, wie er über sie sprach und wie sich sein Gesichtsausdruck dabei veränderte. Aber wieso auch nicht? Welcher Mann würde sich nicht für diese wunderschöne, außergewöhnliche Frau begeistern? Und außerdem ging sie dies natürlich nichts an. Wieso verschwendete sie überhaupt einen Gedanken daran...?
"Übrigens "Freunde"... Verzeiht bitte, aber es kommt mir ein wenig gestelzt vor, den Mann, der mir das Leben gerettet hat und jetzt mit mir durch die Wildnis reist, weiterhin mit "Meister Hexer" anzusprechen. Könnten wir vielleicht... also, nur, wenn es euch Recht ist..."
"Wechseln wir doch der Einfachheit halber zum "Du"", entschied Eskel und warf ihr sein ihm eigenes Lächeln zu.
Thalia war erleichtert, dass ihm die vertrauliche Anrede auch lieber zu sein schien.
"Wo liegt denn dieses Kaer Morhen, zu dem du reisen willst?"
"Im Norden, in den Blauen Bergen. Wenn wir in Aedd Gynvael angekommen sind, werde ich vielleicht dort noch einen Auftrag annehmen und mich dann auf den Weg machen. Die alte Festung ist in keinem guten Zustand und vor dem Winter stehen noch einige Instandsetzungen aus, damit uns in den Schlafräumen nicht der Wind um die Ohren pfeift."
"Klingt ja nach einem gemütlichen Plätzchen..."
"Man gewöhnt sich daran."

Das Herz der Alchemie (The Witcher FF)Where stories live. Discover now