Kapitel 1

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Lucinda

»Bewegte Objekte scheinen deshalb nicht nur kürzer sondern, sind messbar verkürzt«, verkündete Mr Schroeder fasziniert und malte neben sein langes Raumschiff noch ein kürzeres an die Tafel. Er war ungefähr Ende dreißig und seine kurzen, schwarzen Haare standen strubbelig von seinem Kopf ab. Leuchtend grün lächelten uns seine freundlichen Augen an und die helle Haut bildete einen scharfen Kontrast zu seiner Haarfarbe. Mit seinen eins dreiundneuzig war er ziemlich groß, dennoch fand er für seinen schlanken, katzenartigen Körper immer wieder aufs Neue irgendwelche T-Shirt mit Physikwitzen. Heute war ein dunkles Shirt mit der Aufschrift ›Ein Physiker ist jemand, der jeden technischen Defekt erklären, aber nicht reparieren kann‹ am Start.

»Wenn ihr also in der Rakete sitzt«, er malte dem Raumschiff ein Fenster und in das Fenster ein winkendes Strichmännchen, »ist für euch das Raumschiff länger als für das Marsmännchen, an dem ihr mit hoher Geschwindigkeit vorbeifliegt.« Mr Schroeder ergänzte einen grünen Haufen auf unserem Alibiplaneten unter dem Raumschiff.

Stumm zeichnete ich das Raumschiff ab. Es wirkte irgendwie verkrüppelt. Ich fragte mich, warum mein Physiklehrer eigentlich kein Kunst unterrichtete. Allein das Tafelbild war bunter und die Bildchen dazu realistischer als Vieles, was ich im Kunstunterricht fabrizierte. Allerdings würde das auch zwangsläufig bedeuten, dass wir einen anderen Lehrer in Physik bekommen würden und das wäre mein sicheres Ende. Denn Mr Schroeder hatte außerdem die geniale Fähigkeit, uns Physik so zu erklären, dass man gar nicht anders konnte, als es zu verstehen. Sogar als Physik-Noob erschien Einem hier alles logisch.

Und das will was heißen.

»Kann ich mir deinen grünen Fineliner ausleihen? Ich habe nur noch Lila und ich will kein lila Marsmännchen.«

Ich blickte nach rechts zu Ash, der mich charmant anlächelte. Asher Gray, der beste Freund meines besten Freundes und mein Ex. Seit zwei Monaten.

Gegen meinen Willen verfiel ich in dummes Starren. Zu meiner Verteidigung, Ash ist einer der Typen, denen man als Mädchen einfach nicht widerstehen kann: zirka zehn Zentimeter lange, schwarze Haare, an den Seiten kürzer, die immer so verführerisch zerstrubbelt waren, dass man das strikte Verlangen verspürte, mit den Fingern durchzuwuscheln. Dazu kamen schmale, von dunkeln Wimpern umrahmte Augen, die im Sonnenlicht wie Silbermünzen glitzerten. Die kleine, blasse Narbe, die über sein Kinn verlief und sein markanter, gerader Kiefer verliehen ihm etwas Gefährliches. Wenn er sich dann mit seinen knapp zwei Metern und seinem schlanken, zart muskulös definierten Körper vor Einem aufbaute und, wie jetzt im Sommer, solche Shirts trug, die seinen Körper mehr als positiv betonten - nun, ich glaube, ich muss nichts mehr dazu sagen. Von seinem charmanten Lächeln will ich jetzt erst gar nicht anfangen.

Allerdings hatten wir beide nach ein paar Monaten gemerkt, dass wir irgendwie nicht zusammen passten. Wir hatten uns getrennt, kamen aber immer noch gut miteinander klar.

Dementsprechend freundlich reichte ich ihm meinen hellgrünen Fineliner. Er bedankte sich.

Mr Schroeder erzählte munter weiter und erklärte die Längenkontraktion mit solch einer Begeisterung, dass ich gar nicht anders konnte, als zuzuhören. Einstein selbst hätte es nicht besser machen können. Leider wurde er mitten im Satz vom Pausenklingeln unterbrochen.

Und da Schüler nun einmal die Angewohnheit hatten, grundsätzlich nicht den Lehrer die Stunde beenden zu lassen, machte sich Mr Schroeder auch gar nicht die Mühe. Er ließ seinen armen, angefangen Satz einfach im Raum stehen, während meine Mitschüler in Gespräche verfielen und ihre Sachen in die Schultasche quetschten.

Auch ich tat das, einfach aus dem Grund, weil alle es taten. Wie eine Mitläuferin. Ein Schatten, der nicht gesehen werden möchte.

Ich war so eine Person, die es vermied, im Mittelpunkt zu stehen. Es reichte schon, dass ich aufgrund irgendeiner Pigmentstörung graue Haare hatte. Richtig, grau. Nicht schön weißblond. Grau. Damit fiel ich auf wie ein bunter Hund - man beachte das Wortspiel. Mein bester Freund bestand zwar darauf, dass meine Strähnen silbern waren, doch ich sah da kein Unterschied. Grau war grau.

Seelenschreiberin (Doppelband)Where stories live. Discover now