Kapitel 24

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Álvaro

»Magst du etwas trinken?« Ich musterte sie.

Lucinda lachte. »Komm wieder her, ich lasse dich erst mir etwas zu Trinken holen, wenn du den lichtelektrischen Effekt endlich verstanden hast.«

Ich stöhnte auf.

Im Nachhinein war es vielleicht doch nicht die beste aller Ideen gewesen, sie vorhin anzurufen. Allerdings brauchte ich ihre Hilfe wirklich. Zwar erklärte Mr Schroeder den Stoff ausgezeichnet und man konnte gar nicht anders, als zu verstehen, dennoch fehlte mir der Stoff von vorletztem Freitag, also nicht vorgestern, sondern die Woche zuvor, da ich einen Tag vorher zusammengebrochen war. Lucinda erklärte ausgezeichnet. Und bis auf diesem blöden lichtelektrischen Effekt hatte ich das auch alles verstanden.

Jedoch war das nicht der einzige Grund, wieso ich sie angerufen hatte. Und das wusste das Mädchen auch.

Ich brauchte Blut.

Am Telefon hatte ich ihr zuerst von meiner Idee erzählt, dass sie mir ja beim Lernen helfen könnte, ich würde ich Gegenzug etwas Kochen. Lucinda hatte sich gefreut und dann zugesagt.

Mein unentschlossenes Schweigen, das darauf folgte, hatte sie allerdings auch verstanden. Ich schämte mich dafür, die Kleine wieder und wieder zu fragen. Zumal es schlimm für sie war.

Es wäre okay, hatte Lucinda ruhig gesagt, und, dass es gut wäre, dass ich es ihr nicht verschweigen würde.

Das machte es jedoch auch nicht besser.

»Komm schon, so schwer ist das nicht, das schaffst du«, kicherte das Mädchen. Sie saß an der Kochinsel auf einem der Hocker, ihren Physikhefter vor mir ausgebreitet. Beiläufig strich die Kleine sich eine ihrer silbernen Strähnen hinters Ohr.

Meine Unterarme lagen auf der Anrichte. Die Platte war kalt. Unbewusst schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ob Lucinda wusste, dass diese kleine Bewegung unglaublich süß war? Vermutlich nicht. Dennoch kribbelte es in mir und das Gefühl pulsierte glänzend durch meine Adern.

Jäh verspürte ich das dringende Verlangen, einfach zu ihr zu gehen, sie von ihrem Hocker zu ziehen und ihre zarten Lippen zu küssen. Gedanklich malte ich mir aus, wie ich die Kleine mit meinem ganzen Körper sanft gegen den Türrahmen drückte. Wie sie sich an mich schmiegte. Wie ihre Fingernägel über meinen Rücken kratzten und leuchtend rote Spuren hinterließen.

Gott, ich konnte den süßen Schmerz förmlich spüren.

Allerdings mischte sich gleichzeitig Reue und Scham dazu. Lorenzo würde sich im Grabe umdrehen, wenn er um meine neuen Interessen wüsste.

Obwohl er nie die Ehre eines Grabes erhalten hatte. Vermutlich lag Lorenzo mit startend Blick am Grund der Schlucht. Die Gliedmaßen in einem unnatürlichen Winkel abstehend und verdreht. Und wahrscheinlich dazu noch von blutverschmierten Felsen aufgespießt und verunstaltet.

Mir wurde schlecht, als ich auch nur an dieses Bild dachte.

Es war sechs Wochen her. Sechs Wochen, in denen ich geweint und meinen psychischen Schmerz in physischen umgewandelte hatte. Sechs Wochen, in denen ich nachts immer und immer wieder das Szenario durchlebt hatte.

Und trotzdem kribbelte mein Bauch, wenn ich dieses eine Mädchen nur ansah.

Ich wischte die Gedanken aus meinen Kopf. »Was hälst du stattdessen von Essen?«, wechselte ich geschickt das Thema.

Ihre rosanen Lippen verzogen sich zu einen unglaublichen Lächeln und Lucinda strahlte mich an. »Überredet. Aber nur, weil ich Hunger habe. Erst der Hauptgang und danach deinen Nachtisch oder willst du es als Vorspeise?« Ein unsicheres Lachen rutschte ihr heraus.

Seelenschreiberin (Doppelband)Where stories live. Discover now