Kapitel 9

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Álvaro

»Kannst du mir einen Bleistift ausleihen?« Sie beugte sich zu mir rüber und klimperte mit ihren Augen. Ich meine, angeklebte Wimpern waren vermutlich durchaus ein Thema, wo man sich drüber streiten konnte. Irgendwo, wenn man es geschickt machte, sah es sogar hübsch aus. Aber wenn man das Gefühl hatte, dass neben einem ein Phönix andächtig mit den Flügeln schlug, war es wahrscheinlich dann doch zu viel des Guten.

Und leider traf das Eins zu Eins auf das Mädchen neben mir zu.

Für meine Begriffe bestand Schönheit aus Natürlichkeit. Ich war damit aufgewachsen. Bis gestern kannte ich sowas wie Eyeliner, Lippenstift, Makeup oder Phönixfedern zum Ankleben nicht. Das bisschen Rouge, was meine Mutter trug, war alles.

Aber vielleicht war es auch der Tatsache geschuldet, dass meine Mutter und meine Schwestern von Natur aus sehr hübsch waren. Das lag uns im Blut, schließlich waren wir alle Vampire. Hier galt ebenfalls, je mächtiger, desto hübscher.

Da hier jedoch fast alle Mädchen geschminkt waren, war es vermutlich auch kein Wunder, dass die Kleine neben mir so lange Wimpern hatte. Ich tippte stark darauf, dass Schminken hier zum Schönheitsideal gehörte.

»Álvaro?«, riss sie mich aus meinen Gedanken.

Wortlos und ohne aufzustehen schob ich ihr einen meiner schwarzen Bleistifte zu. Als sie sich den Stift nahm, klackerten ihre widerlich langen Fingernägel auf dem Holz des Tisches. Grell pink leuchteten die Kunststoffnägel. Angewidert schauderte ich. Wie konnte man als Mann auf sowas stehen?

Ein sehr großer Vorteil, wenn man schwul war. Besonders hier. Denn Männer klebten sich solche Dinger nicht an die Finger. Das war ja abartig. Schon der Gedanke daran, wie es sich anfühlen mochte, wenn sie abbrachen, ließ mich schaudern.

»Danke«, säuselte das Mädchen. »Ich bin Claire.«

»McEvans«, unterbrach Mr Schroeder sie genervt. »Wenn Sie so freundlich wären und Ihre Klappe halten könnten? Andere, wie zum Beispiel Mr de Pregonas, möchten meinem Unterricht sicherlich folgen.«

Claire verzog das Gesicht. »Ich habe ihn doch nur nach einem Stift gefragt«, verteidigte sie sich schnippisch.

»Mich interessiert nicht, warum Sie meinen Unterricht stören, nur, dass Sie es tun. Also unterlassen Sie das in Zukunft bitte.« Mr Schroeder wandte sich wieder seiner Definition von Inertialsystemen zu.

Ich senkte den Blick wieder auf meinen Block und pinselte die Worte ab.

Heute morgen war es überraschenderweise um Einiges wärmer als gestern gewesen. Während ich da lange Hosen, ein Hemd und eine Jacke darüber getragen hatte, hatte ich zumindest die Jacke zu Hause gelassen und das dunkle Oberteil durch ein blütenweißes Hemd eingetauscht. Die oberen beiden Knöpfe des Hemdes standen offen und ab und an schimmerten Teile der tintenschwarzen Runen unter dem hellen Stoff hervor. Sie bildeten einen scharfen Kontrast. Auch meine Ketten fielen so mehr auf als gestern. Zwar blitzte der Runenanhänger der längeren Kette nur manchmal unter dem hellen Hemd hervor, der Ring von Lorenzo hingegen war gut zu sehen, wenn ihn nicht gerade einige meiner dunklen, langen Strähnen überdeckte.

Ich hatte Lorenzo diesen Ring nie gegeben. Eigentlich wollte ich ihn meinem Freund an genau dem Tag schenken, als wir zusammen im Wald waren. Ewig hatte ich auf den perfekten Moment gewartet. Nach dieser Nacht hatte es sich richtig angefühlt.

Doch leider war es da schon zu spät gewesen. Zu schnell war die Situation eskaliert und hatte mit Lorenzos Tod geendet.

Ich schluckte hart und verdrängte erneut die Bilder aus meinem Kopf. Zumindest versuchte ich es, aber nach dem Traum heute Nacht war das Ganze etwas komplizierter als erwartet.

Seelenschreiberin (Doppelband)Onde as histórias ganham vida. Descobre agora