Kapitel 9

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Álvaro

»Warte auf mich!« Lachend rannte ich Lorenzo nach. »Wo willst du hin?«

Meine Augen klebten förmlich an ihm. Wieso auch nicht? Dieser Mann war einfach perfekt, wer konnte schon diesem Lächeln widerstehen? Eins war sicher, ich jedenfalls nicht. Innerhalb weniger Tage war ich ihm verfallen. Eigentlich war ich nie der Mensch für, jemanden schamlos anzugaffen und es nicht einmal zu merken. Dachte ich - bis Lorenzo vorgestern genau aus dem Grund angefangen hatte, in schallendes Gelächter auszubrechen. Rot wie frisches Eberblut war ich geworden und nur sehr langsam hatte diese Farbe sich aus meinem Gesicht verflüchtigt, obwohl der hübsche Mann mir aufrichtig versichert hatte, dass mein Starren süß gewesen wäre.

Unachtsam, wie ich in solch einem Moment war, wenn ich im goldenden Erinnerungen schwelgte, sah ich die Wurzel selbstverständlich nicht kommen. Im ersten Augenblick schmerzte mein Fuß, in der nächsten Sekunde landete ich nach kurzem Stolpern unsanft in einem der Brombeersträucher, welche den Wegesrand säumten. Ihre spitzen Dornen verteidigten die süßen Beeren wie stramme Krieger ihr heiliges Land; ebenso unangenehm zerstachen sie mir jetzt die helle Haut.

Lorenzo hatte meinen tollpatschige Sturz gemerkt; er stoppte und drehte sich zu mir um. »Ach du meine Güte, Álvaro, was machst du denn?« Mit wenigen Schritten war der Mann bei mir und kniete sich besorgt neben mich. »Hast du dir wehgetan?«

Unbeholfen versuchte ich mich aufzurappeln. Allerdings gestaltete sich das schwierig, da die Dornen des Strauches sich bei jeder noch so kleinen Bewegung in meine Haut bohrten. Aber mir war bewusst, dass ich nur so aus dem Geäst rauskommen würde, deshalb ignorierte ich die Stacheln der Pflanzen. In diesem Moment verfluchte ich mich für meine armselige Hilflosigkeit. Gott verdammt, ich war der Erbe, ein Mann; das Wörter wie Schwäche, Schmerz oder Gefühl sollte in meiner Welt nicht einmal existieren.

Zumindest wenn man meinen Vater Glauben schenken sollte. Ich konnte nicht sagen, wie oft er mir dies wie ein Geistlicher gepredigt hatte. Allerdings war bei seinen Worten nichts Heiliges bei gewesen. Viel mehr entsprachen sie einer kalten, dystopischen Dimension, die jede Menschlichkeit verloren hatte. Jede Lebendigkeit. Kälte, Schwärze und Trostlosigkeit klebten an dieser Welt wie Honig.

Nach einigen Minuten hatte ich mich und meine Kleidung weitestgehend aus den Dornen befreit und Lorenzo half mir auf. »Hast du dir wehgetan?«

Bis jetzt hatte ich noch kein einziges Wort verloren, seit er begonnen hatte, vor mir wegzulaufen wie ein lebensmüdes Reh vor dem Wolf. »Ja, es geht mir gut, sorge dich nicht«, murmelte ich beschämt. Meine Unachtsamkeit war wirklich zutiefst demütigend für einen Prinzen.

Lorenzo stand jetzt ganz nah vor mir, kaum passte ein Blatt Pergament zwischen unsere Körper passte, ich konnte seinen fantastischen Duft nach Wiesen und Honig deutlich riechen. Unsicher strich er mir eine meiner dunkelbraunen Locken hinter das Ohr, welche mir störrisch ins Gesicht gefallen war. Seine federleichte Berührung ließ die Schmetterlinge in mir wild aufflattern und drehten Chaos stiftend und tanzend meine Innereien um. Dass seine Finger anschließend weiter nach unten wanderten und der feine Definition meiner Oberarmmuskeln folgten, führte nicht gerade zur Beruhigung unter meinem Herzen.

Bei meinen Unterarm hielten seine weichen Fingerspitzen mitten in der Bewegung inne und zogen mit einem Ruck die Dorne aus meinen Fleisch, die sich an der Stelle weil ein Kätzchen festgekrallt hatte. Ein bebenden Gänsehaut breitete wie eine Welle auf meiner Haut aus, beginnend in meinen Nacken, als Lorenzo einige Male über die Einstichstelle der Dorne strich. Jäh löste er seine Hand, jedoch nur, um sie anzuheben und die mit meinem blutverschmierten Finger zu seinem Mund zu führen.

Ich keuchte, als er die rote Flüssigkeit genüsslich von den Fingerspitzen leckte. Erregung schoss mir augenblicklich wie ein Pfeil durch die Adern und ließ ein Kribbeln in meinen Lenden keimen, wie ich es noch nie gespürt hatte. Mein Atem ging unregelmäßig und benetzte wie die feinen Welle des Windes im Sommer seine scheinbar weichen Lippen.

Seelenschreiberin (Doppelband)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt