Kapitel 32

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Lucinda

Er zerrte mich grob in eine kleine Nische zwischen den Spinden. Ironischerweise war es genau die Nische, in der Álvaro gekauert hatte, als es ihm vor Mathe aufgrund des Blutmangels damals so schlecht gegangen war. Fast hätte ich gelacht.

Allerdings nur fast.

»Du wirst das nicht machen. Das kannst du vergessen«, knurrte Logan mich an.

Inzwischen bereute ich stark, ihm gerade in Geschichte diesen Zettel zugeschoben zu haben. Ich muss Álvaro suchen, hatte darauf gestanden. Allein schon die Blicke, die mein bester Freund mir danach zugeworfen hatte, hatten Bände gesprochen. Selten hatte ich ihn so gesehen. Aber seit der Aktion gestern - seit dem Kuss - wusste ich ja auch, wieso er sich in letzter Zeit besonders beschützerisch aufführte. Und ich war mir sicher, dass da neben seinem Beschützerinstinkt auch noch eine gehörige Portion Eifersucht dabei war.

Ehrlich gesagt hatte der Kuss mich wirklich überrascht. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass er auf die Art für mich empfand. Natürlich standen wir uns nahe. Doch Logan war wie der Bruder für mich, den ich nicht hatte. Ich war immer davon ausgegangen, dass davon auch das Verlangen, mich zu beschützen, hervorgegangen war.

Welch Irrtum.

Gestern Abend war ich mehr als nur aufgewühlt gewesen. Einmal hatte ich nicht auf meinen Mund geachtet und im nächsten Moment war dann die Situation eskaliert. Álvaro war über mich hergefallen. Jedoch konnte ich ihm das nicht einmal verübeln. Vermutlich hätte ich an seiner Stelle genauso reagiert. Wenn nicht sogar noch schlimmer. Immerhin hatte der Vampir mich ja noch am Leben gelassen. Das hätte weitaus katastrophaler enden könnten. Schließlich war er der Sohn seines Vaters. Und in seiner Welt war die Todesstrafe alltäglich. Álvaro kannte es nicht anders, ich konnte es ihm nicht einmal verdenken.

Dass Logan dann so schnell zu mir kommen konnte, hatte dann alle Knoten in mir gelöst. Ich war einfach nur dankbar gewesen. Dass er für mich da war, sich um mich sorgte. Die Wahrheit war ich ihm schuldig gewesen. Und die hatte mein bester Freund erstaunlich schnell geglaubt.

Jedoch schien ich nicht die Einzige gewesen zu sein, die reinen Tisch gemacht haben wollte. Sein Kuss kam plötzlich, weil ich es wirklich nicht erwartet hatte; jedoch hatte die Situation geradezu dazu eingeladen - zumindest wenn wir nicht befreundet gewesen wären. Als seine - zugegebenermaßen, sehr weichen und zärtlichen - Lippen die Meinen berührt hatten, war ich im ersten Moment viel zu überrumpelt gewesen, um etwas zu tun. In meinem ganzen Kopf hatten noch immer die Gedanken wild umher gewirbelt, zu sehr hatte mich die Aktion von Álvaro aufgewühlt. Und wenn ich ganz ehrlich war, im ersten Moment hatten sich seine Lippen gut angefühlt. Ungewohnt, aber gut. Vertraut. Doch dann war mir klar geworden, dass ich Logan nicht auf diese Art liebte.

»Ich werde dich nicht einmal in die Nähe dieses Monsters lassen«, fuhr er fort und riss mich so aus meinen Gedanken.

Ich verdrehte die Augen. »Er ist kein Monster.«

Seine gletscherblauen Augen wurden schmal und eine kleine Wutfalte erschien auf seiner Stirn. »Gerade du solltest wissen, dass er das ist. Allein schon aufgrund der Tatsache, wie er dich gestern zugerichtet hat«, zischte Logan, die Arme links und rechts neben meinem Kopf an den Schließfächern abgestützt.

Nun ja, trotz des Speichels sah man mir noch an, dass mir etwas passiert sein musste. Mein Wangenknochen leuchtete meergrün bis blau, genau wie meine Arme und Rippen. Von meinen Knien möchte ich gar nicht erst anfangen. Álvaro war gestern wirklich nicht zimperlich mit mir umgegangen. Noch immer tat mir alles weh, wenn ich mich bewegte. Aber es war auszuhalten und ich würde einen Teufel tun, Logan etwas davon zu sagen. Lieber biss ich mir die Zunge ab. Es wäre die reine Bestätigung für ihn, dass er Recht hatte. Und tat mir wirklich sehr leid, aber in diesem Punkt stimmte ich nicht mit ihn überein.

Seelenschreiberin (Doppelband)Where stories live. Discover now