Kapitel 12

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Lucinda

Mit zittrigen Fingern zog ich meinen Schal aus der Schublade für Mützen, Tücher und Handschuhe. Mein Herz schlug viel zu schnell und das Adrenalin schoss wie eine Droge durch meine Adern.

Ich musste das jetzt durchziehen, sonst würde ich es definitiv bereuen.

Meine Mom hatte immer noch Spätdienst, daher würde sie mein Fehlen nicht so schnell bemerken.

Hastig knuddelte ich mich in meinen flauschigen Schal, streifte mir meine Jacke über und schlüpfte in meine flachen, schwarzen, ausgelatschten Chucks. Anschließend griff ich noch nach meinen Schlüsseln, überprüfte, ob ich mein Handy in meiner rechten Arschtasche hatte und verließ die Wohnung. Fahrig stolperte ich das Treppenhaus nach unten, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Doch als mir dann doch ziemlich warme Nachtluft entgegenschlug, als ich die Haustür öffnete, hielt ich inne.

Vielleicht war das mit dem Schal doch keine so gute Idee.

Seufzend kehrte ich um und stapfte die Treppen wieder nach oben. Die Schlüssel klimperte laut, als ich die Wohnungstür aufschloss. Mit ein paar Schritten war ich bei der Kommode und stopfte den Schal wieder in die Schublade zu dem pinken Handschuh, dessen Partner ich vor drei Jahren verloren hatte. Aber ich brachte es nicht übers Herz, den anderen, armen Opferhandschuh zu entsorgen; Logan hatte sie mir damals zu Weihnachten geschenkt und ich schämte mich immer noch in Grund und Boden, weil ich den einen verloren hatte.

Ich wischte die Erinnerung aus meinen Kopf und machte mich erneut auf den Weg.

Der Schlüsselbund verschwand in der Tasche meiner dünnen, schwarzen Strickjacke und ich machte den Reißverschluss zu, damit er nicht rausfiel. Anschließend fummelte ich meine Kopfhörer aus meiner Jackentasche und friemelte sie auseinander. Es war erstaunt, wie viele Knoten im Kabel waren, nur von einmal in die Tasche stecken. Während ich sie entwirrte, ging ich die Straße entlang.

Eigentlich wusste ich nicht einmal, wohin ich lief.

Der Himmel über mir war pechschwarz, dicke Wolken drängten sich unheilvoll aneinander. Doch selbst wenn die Nacht sternenklar gewesen wäre, man hätte keinen Mond gesehen, es war soweit ich wusste Neumond. Oder zumindest war es kurz davor, konnte auch morgen erst sein.

Dann endlich, als ich unter einer Laterne durchlief, die gefährlich flackerte, hatte ich meine Kopfhörer entfitzt und steckte sie sowohl in mein Handy als auch in meine Ohren. Flink glitten meine Finger über das Display, als ich Jeans Nummer raussuchen. Ich drückte auf Anrufen.

Gott, ich konnte nur hoffen, dass er mir helfen konnte.

»Lucinda?«, erkundigte sich Jean nach drei Ruftönen.

Ich atmete tief durch. »Hi, kann ich kurz mit dir reden?«

»Du, das ist grade eigentlich blöd, ich hab hier gerade ein junges Ehepaar, das dringend darauf wartet, dass wir anfangen«, erklärte er entschuldigend. »Der Chef bringt mich um, wenn ich jetzt nicht mit helfe.«

»Bitte, nur ganz kurz«, bettelte ich. »Eigentlich wollte ich nur fragen, ob du zufälligerweise weißt, wo Álvaro wohnt.«

Jean seufzte. »Leider nein. Ich hab nicht einmal seine Nummer, sonst hätte ich längst noch einmal mit ihm gesprochen. Wieso fragst du?«

»Nur so«, sagte ich schnell. »Das war eigentlich alles. Danke dir trotzdem.«

»Kein Ding.« Ich konnte seine Verwirrung förmlich hören, aber er tat, als wäre nichts. »Ich mache dann mal weiter. Bis dann.«

»Bis dann.«

Wir legten auf.

Nur schwer konnte ich meine Enttäuschung verdrängen. Jetzt war ging die Wahrscheinlichkeit gegen Null, dass ich Álvaro fand.

Seelenschreiberin (Doppelband)Where stories live. Discover now