Kapitel 15

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Álvaro

Ich war mehr als dankbar, als am Montag die erste Stunde Sport ausfiel, der Lehrer war irgendwie krank oder so. War mir eigentlich auch egal. Allein die Tatsache, dass ich länger schlafen konnte, reichte mir.

Nun ja, wirklich länger geschlafen hatte ich ehrlich gesagt nicht. Stattdessen war ich damit beschäftigt gewesen, mir heute morgen die Wunden zu lecken - im wahrsten Sinne des Wortes.

Fast jede Nacht versagte inzwischen meine Selbstkontrolle. Ich träumte ständig von Lorenzos Tod. Weinte, bis ich keine Luft mehr bekam. Allerdings mit dem Zusatz, dass er mir vorher immer vorwarf, dass ich ihn verriet. Ihn und sein Andenken. Unsere Beziehung.

Ganz unrecht hatte er da leider nicht.

Ich konnte noch nicht einmal erklären, warum mir das Mädchen nicht aus dem Kopf ging. Warum Lucinda mir nicht aus dem Kopf ging.

Ich war Freitag Abend mental eigentlich schon dazu bereit gewesen, zu sterben. Zwar war ich auf dem Weg zum Strand gewesen, weil ich in der Natur sein wollte, jedoch hatte es mich vorher schon erwischt und ich war zusammengebrochen. Eine Weile hatte ich noch versucht, wieder auf die Beine zu kommen, dann hatte ich es gelassen. Ich war verdammt schwach gewesen. Mein Herz schlug immer langsamer, die Bisswunden, die ich mir einige Stunden zuvor selbst zugefügt hatte, heilten trotz meines Speichels nicht mehr.

Mir war in dem Moment klar, dass ich sterben würde. Und auf eine Art wollte ich es. Es war okay. Ich wollte nicht mehr fühlen, wollte, dass es aufhörte, wehzutun. Wollte wieder bei Lorenzo sein.

Aber Lucinda hatte anscheinend andere Pläne für mich. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie sie mich gefunden hatte. Doch dass die Kleine mir ihr Blut gegeben hatte, obwohl es ihr sowohl physische als auch psychische Schmerzen bereitete, rettete mir nicht nur das Leben, es gab mir Hoffnung.

Schon bei dem Gedanken, wie ihr Blut geschmeckt hatte, wurde mir schwindelig. Ich meine, ich hatte schon viel Blut gekostet, von den verschiedensten Menschen. Wahrscheinlich hatte ich unser komplettes Herrschaftsgebiet schon einmal durch. Aber nie hatte jemand so unglaublich süß und berauschend geschmeckt.

Ich hätte nur ein paar Schlucke gebraucht, um das Defizit von letzter Woche auszugleichen und übers Wochenende zu kommen. Niemals wäre sie da einfach zusammengebrochen. Aber ihr Blut war so unglaublich köstlich, dass ich einfach nicht aufhören konnte. Es war wie ein Rausch. Wie mit Schokolade, man wollte eigentlich aufhören, weil man sonst zunahm, aber dann war es immer so nach dem Motto: Ach, nur noch ein Stück. Nicht einmal das Blut von Lorenzo hatte so gut geschmeckt. Wobei selbst das mich schon wahnsinnig gemacht hatte.

Und allein dafür schämte ich mich schon.

Als ich gemerkt hatte, dass sie sich nicht mehr bewegte, war mir das Herz in die Hose gerutscht. Zwar hatte ich noch Puls gefunden, aber den Weg nach Hause in meine Wohnung war ich fast gerannt. Ich hatte verdammtes Glück, dass mir unterwegs niemand entgegen gekommen war. Da hätte ich ein relativ kompliziertes Problem an der Backe gehabt. Fast wäre ich sogar noch die Treppe mit ihr auf dem Arm hochgefallen.

In meiner Wohnung angekommen, hatte ich ihr als Erstes etwas von meinem Blut gegeben, nur ein paar Tropfen. Aber die konnten ausschlaggebend sein, denn unser Blut regte die Blutproduktion stark an. Vermutlich wäre sie ohne mein Blut Samstag früh nicht so einfach aufgestanden.

Meine groben, blutverschmierten Bisse hatten eine scharfen Kontrast zu ihrer hellen, makellosen Haut gebildet, das Gesicht war nass von ihren Tränen gewesen. Es tat mir weh, Lucinda so zu sehen. Obwohl ich sie kaum kannte. Aber das Mädchen hatte ihr Leben für meins geopfert, sich für mich in Gefahr gebracht.

Seelenschreiberin (Doppelband)Kde žijí příběhy. Začni objevovat