Nine

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~ 'Someone you loved' - Lewis Capaldi ~

LOUISE

Ein Strudel aus Farben.
Ich hatte mich gestern schon wieder mit Mom gestritten. Ich hatte ihr erzählt, dass Johns Vater mit mir gesprochen hatte. Das war ein Fehler gewesen. Doch ich hatte ihr schon immer alles erzählt. Mit Fünf hatte ich es nicht geschafft, ihr das mit den vernaschten Keksen zu verheimlichen, mit elf hatte ich ihr nicht die freche Antwort verschweigen können, die ich meinem Informatiklehrer auf eine Ermahnung hin gegeben hatte und die damals noch eine Seltenheit gewesen war, und sogar nach meinem ersten Kuss hatte sie mich solange gelöchert, bis ich schließlich mit der Sprache herausgerückt war.
Meine Mom war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Als ich ihr gesagt hatte, Mr Edwards wäre der Vater eines Schulkameradens war sie total ausgetickt. Obwohl ausgetickt nicht das richtige Wort war. Weggerannt war sie. Ihr Gesicht war kreidebleich geworden, dann hatte sie ohne etwas zu sagen die Tür hinter sich zugeschlagen und war verschwunden. Ich hätte sie in diesem Moment nicht anschreien sollen. Ich hätte ihr nicht hinterher brüllen sollen. Aber ich hatte es getan.
Sie war gestern Abend erst nach Hause gekommen, als ich schon geschlafen hatte und heute morgen erst aufgestanden, als ich schon weg gewesen war. Wäre ich nicht gestern ohne Decke auf dem Sofa eingeschlafen und heute früh mit Decke aufgewacht, und hätte Mom mir nicht heute Vormittag eine Nachricht geschrieben, ich wäre vor Sorge und Schuldgefühlen fast gestorben. Ich hatte mich gestern den ganzen Abend ins Wohnzimmer gesetzt und auf Mom gewartet, doch der Schlaf war eher gekommen als sie.
Sie hatte mir heute um 10:23 Uhr geschrieben, sie müsse nach der Schule unbedingt mit mir reden. Sie wolle sich mit mir in dem kleinen Café in der Chamber Street treffen.

Jetzt war es 15:11 Uhr. Ich war auf dem Weg in die Chamber Street. Ich wusste nicht, ob ich mit Mom reden wollte. Ich wollte endlich Antworten auf die Fragen. Doch ich würde mich jetzt auch entschuldigen müssen. Alles andere wäre nicht fair gewesen. Ich wusste nicht, ob ich dafür die richtigen Worte finden würde. Vielleicht war ich ja selbst keinen Deut besser als Mom. Weglaufen.

Nun stand ich hier in diesem Strudel aus Farben und Geräuschen. Ich stand hier, mitten in der Innenstadt von Princeton. Ich stand mir selbst im Weg.
Ich wollte Mom all die Fragen stellen. Doch ich wusste nicht, ob sie mir überhaupt antworten würde.
Ich wollte sie eigentlich nicht sehen. Weil sie ein Geheimnis vor mir hatte. Weil wir eigentlich nicht so waren. Weil sie das zerstört hatte.
Ich war furchtbar wütend auf sie.
Ich war auch furchtbar wütend auf mich selbst. Weil ich sie verurteilte. Und doch eigentlich keine Ahnung hatte.

Jäh löste sich ein Geräusch aus dem Strudel.
Es war das leise Tröten einer altertümlichen Fahrradhupe. Mein Handyklingelton. Verwirrt stellte ich fest, dass ich mitten auf dem Marktplatz stehen geblieben war, verloren zwischen den ganzen hektischen Menschen. Mom hatte mir eine Nachricht geschickt:

Wo bleibst du?

Ich war noch nicht einmal fünf Minuten zu spät. Das Gespräch musste ja wirklich wichtig sein.

???????

Ich sollte mich lieber auf den Weg machen, sonst würde Mom mein Handy noch mit Fragezeichen explodieren lassen. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen setzte ich mich nach kurzem Zögern in Bewegung. Nein, Lou, du wirst jetzt nicht abhauen!

***

"Hallo", sagte ich etwas steif, als ich mich auf den Stuhl ihr gegenüber setzte. Auf dem Tisch standen zwei Tassen Latte Macchiato, Zucker und Sahne.

"Louise." Mom klang nicht weniger steif. Es herrschte betretenes Schweigen, wir wussten beide nicht, was wir sagen sollten. Ich begann Zucker in meinen Kaffee zu rühren, um meinen Händen etwas zutun zu geben. Meine Mutter tat es mir nach. Dann redeten wir beide gleichzeitig los.

Changes | AbgebrochenWhere stories live. Discover now