Seventeen

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~ 'Boulevard of broken dreams' - Greenday ~

LOUISE

Doch. Wir sind bereit.

Das hatte ich vorhin einmal gesagt. Ich erinnerte mich auch noch daran, dass ich Entschlossenheit und Hoffnung gespürt hatte. Aber jetzt - bald zwei Stunden später - wusste ich schon fast gar nicht mehr, was das war - Hoffnung. Jedes Mal, wenn mich die Empfangsdame im Wartebereich wieder vertröstet hatte und mir sagte, dass Mom immer noch operiert werden würde und dass das aber überhaupt nichts über die Chancen aussagte, waren meine Schultern ein Stück weiter nach unten gesackt und die Trauer ihrem Sieg ein wenig näher gekommen. Jetzt saß ich wieder da wie ein Häufchen Elend und wartete darauf, dass John vom Schalter zurückkam, wo er sich bestimmt schon zum zehnten Mal nach Neuigkeiten erkundigt hatte. Als ich hörte, wie seine Schritte sich näherten, hob ich den Kopf und sah ihn an. Eigentlich brauchte er mir gar nichts zu sagen. Ich sah seinem Gesicht an, dass er nichts erfahren hatte.

"Sie ist immer noch.." Er schaffte es nicht, weiterzusprechen, so oft hatten wir diese Worte die letzten Stunden schon gehört. Trostspendend griff ich nach Johns Hand, der Blick aus seinen traurigen, braunen Augen berührte mich zutiefst. Sie fühlte sich eiskalt an, genau wie meine Brust, und gleich war ich doppelt froh, diesen winzigen Schritt gegangen zu sein. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie es war, traurig zu sein. Richtig traurig zu sein.

Mein Leben war bisher immer nahezu perfekt gewesen. Klar, in letzter Zeit gab es einige Veränderungen und Überraschungen, die mich auch traurig gemacht hatten, aber nur für einen Herzschlag. Eigentlich hatte ich ja alles gehabt, was ich wollte. Eine liebevolle Mutter. Eine gute Schulbildung. Ein Dach über dem Kopf. Täglich eine warme Mahlzeit. Freunde. Das war mir noch gar nicht richtig klar gewesen. Natürlich wusste ich, dass es anderen Menschen, Menschen direkt vor unserer Nase, viel schlechter erging und ich hatte auch wertgeschätzt, was ich für ein Leben führte. Aber ich begriff nun, wie schnell das alles enden konnte. Nun saß ich hier und wartete darauf, dass man mir die Überlebenschancen meiner Mutter mitteilte und merkte, dass nichts für immer war. Dass all das blitzschnell zu Ende sein konnte. Dass es vielleicht bald zu Ende war. Doch das durfte nicht passieren. So mies war das Schicksal nicht.

Aber warum sollte es nicht mich treffen? Immer wenn wir etwas in den Nachrichten lesen, ein Busunglück, ein Brand, ein Terroranschlag, denken wir etwas wie 'Oh, wie schrecklich. Aber das war in Texas. Zum Glück nicht bei uns' und wir vergessen es wieder. Dabei sollten wir uns doch mal vor Augen führen, dass diese Menschen, die jetzt vielleicht tot sind, das auch dachten, dass sie genauso ein kleines Einfamilienhaus und eine Katze hatten. Ein glückliches Leben. Mich hatte das Schicksal ins kalte Wasser geschmissen. Ich hoffte, dass es anderen nicht auch so ging. Aber dazu mussten wir mal die Augen aufmachen und begreifen, dass wir vor dem Schicksal alle gleich waren.

Als American Idiot von Greenday ertönte schreckte ich hoch. Johns Handy klingelte.

"Dad." Am anderen Ende der Leitung hörte ich eine aufgebrachte Stimme, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagte.
"Mir - mir geht es gut, Dad. Wir...wir sind noch im Krankenhaus." Ich merkte, wie schwer es ihm fiel, seinem Vater die Wahrheit zu sagen. Unserem Vater. Plötzlich fragte ich mich, ob sie schon darüber gesprochen hatten. Bisher hatte ich mich noch gar keine Gedanken darüber gemacht.
"Ich bin mit...mit Louise hier. Wegen Mom. Sie wird gerade operiert. Ein Autounfall." Es herrschte Stille. Dann sagte Dad etwas unverständliches und John legte auf.

"Er kommt her", sagte John zu mir. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Die schrecklichen Ereignisse der letzten Stunden hatten verhindert, dass ich weiter über diese Probleme nachgedacht hatte. Mit einem trockenen Schlucken nickte ich. Nervosität stellte sich bei mir ein. Wie viel konnte ein Mensch eigentlich auf einmal fühlen? Mein Kopf war gerade so voll, dass ich kaum wusste, was ich denken sollte. Da waren Trauer, Angst, aber auch Hoffnung, und dann noch Aufregung und Neugierde.

Changes | AbgebrochenWhere stories live. Discover now