58 | Wie kann ich Beschreibungen bildlicher gestalten? TEIL 2

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Hallo, ihr Menschen da draußen.

Und ... es geht weiter mit Beschreibungen! In der vorherigen Ausgabe, die sich bereits rund um das Thema gedreht hat, bin ich vor allem auf den Aufbau einer Szenen- und Handlungsbeschreibung eingegangen. Davon abgesehen gibt es aber noch viele andere Aspekte, die thematisch passend beleuchtet werden können. So zum Beispiel die Beschreibung von Menschen, die in manchen Augen fast noch wichtiger ist als Umgebungsbeschreibungen. Denn was hilft es dem Leser, die Umgebung genau vor Augen zu haben ... aber nicht die Charaktere, die in ihr interagieren? Genau deshalb möchte ich mich heute damit befassen, wie man dem Leser durch Beschreibungen ein genaues Bild eines Charakters vermitteln und die beiden auf diese Weise im Optimalfall noch enger emotional verbinden kann.

(Noch schnell vorab: Danke für euer positives Feedback zum neuen Pseudonym. Das hat mich total positiv überrascht und gefreut.)


58.1 | Was genau sind Charakterbeschreibungen?

Um Verwirrung vorzubeugen, möchte ich schnell noch definieren, was für mich Charakterbeschreibungen sind; denn jeder drückt sich dahingehend anders aus und den für diese Ausgabe so wichtigen Begriff nicht näher zu erläutern, bevor es richtig losgeht, käme mir schlampig vor.

Also: In Charakterbeschreibungen geht es nicht darum, den Charakter einer Buchfigur zu beschreiben – die inneren Werte werden also größtenteils ausgeklammert. Viel eher geht es um das Aussehen eines Charakters/ einer Person/ einer Figur, wie auch immer man es bezeichnen möchte.

Von grundlegenden Dingen wie der Augen- und Haarfarbe, der Körpergröße oder auch Statur gehe ich persönlich noch einen Schritt weiter und beziehe auch Verhaltensmuster mit ein, die sich gleich beim ersten Aufeinandertreffen mit diesem Charakter offenbaren. Sie sind eine interessante Mischung zwischen inneren und äußeren Merkmalen, denn obwohl sie ihre Wirkung nur nach außen entfalten können, stammen sie von grundsätzlichen inneren Einstellungen und Überzeugungen ab.

Zu ihnen gehören unter anderem...

...Ausdrucksweise:
• Stottert der Charakter?
• Benutzt er in seinen Sätzen viele Füllwörter?
• Hat er ein überdurchschnittliches rhetorisches Talent?

...Körperhaltung:
• Zieht der Charakter sich in sich selbst zurück?
• Tanzt er gerne oder fühlt sich dann bloßgestellt?
• Drückt er die Brust raus und marschiert scheinbar selbstsicher in für ihn unbekannte Situationen?

...Charisma:
• Fühlen sich andere Menschen wie verzaubert vom Auftreten des Charakters?
• Wirkt er wie ein Magnet?
• Kann er Blickkontakt halten oder muss er schon nach Sekunden abbrechen?

...'Self-Awareness' (sich seiner selbst bewusst sein):
• Weiß er, dass er gutaussehend/ weniger attraktiv ist?
• Kann er über sich selbst lachen?
• Wechselt er in einem Gespräch das Thema, wenn er merkt, dass sein Gesprächspartner wenig Interesse zeigt?

Meine Aufgabe: Beschreibt den Protagonisten/ die Protagonistin eures aktuellen Projekts mithilfe der obigen Punkte.


58.2 | Ungewöhnliches hervorheben

Zu ungewöhnlichen Äußerlichkeiten eines Charakters gehören unter anderem...

...Narben. Wie hat der Charakter sich die Narbe zugezogen? Stammt sie von einer fremd- oder selbstverschuldeten Verletzung?

Sieht sie wulstig oder glatt aus, steckt noch Dreck von der Verletzung in der Haut (mögliche Schlussfolgerung: keine medizinische Versorgung)?

...Falten. Sieht der Charakter seinem Alter entsprechend aus oder altert er (durch Stress oder Krankheit) frühzeitig?

...Ticks. Hat der Charakter bestimmte Ticks, die ihn auszeichnen? Wackelt er mit den Füßen oder tippt er mit den Fingernägeln in einem bestimmten Muster auf harte Oberflächen, wenn er nervös ist?

Meine 1. Frage: Fallen euch noch weitere ungewöhnliche Äußerlichkeiten oder Handlungsmuster ein, die man beschreiben könnte?


58.3 | Charakterbeschreibungen – ja oder nein?

Bei diesem Punkt muss ich erst einmal klar Farbe bekennen: Da ich mir Bücher in meinem Kopf immer gerne wie Filme vorstelle, egal ob beim Schreiben selbst oder dem Lesen anderer Bücher, bin ich ein großer Fan von ausführlichen Charakterbeschreibungen. Manche sehen das aber komplett anders und wollen es dem Leser viel eher ermöglichen, sich die Buchcharaktere selbst vorzustellen.

Beide Varianten bieten ihre Vor- und Nachteile. Wenige Beschreibungen tragen dazu bei, dass das spezifische Aussehen der Buchfiguren für den Leser ein Mysterium bleibt – zumindest das Aussehen gemäß dem Schriftsteller. Wie stellt er oder sie sich den Protagonisten vor, wie ist der Protagonist demografisch (Ethnie, Alter, etc.) einzuordnen? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Andererseits ist es verständlich, wenn Autoren es vorziehen, ihren Lesern möglichst viel Freiraum in ihrer Vorstellung zu lassen?

Andererseits können ausführliche Charakterbeschreibungen dazu beitragen, dass die Leser sich nicht nur bevormundet fühlen ("Ist doch gut jetzt, ich will mir den Charakter selbst vorstellen!"), sondern auch gelangweilt werden. Nach Seite 3 der Beschreibung von Bartholomäus, in der auf jeden Pickel und jeden Leberfleck eingegangen wird, ohne dass sie irgendeine Relevanz für seine Persönlichkeit oder spätere Rolle in der Handlung haben, langweilt sich auch der geduldigste Leser. Dennoch: Ausführliche Beschreibungen eines Charakters können sich auch auszahlen, denn alle Leser sowie der Autor sind "on the same page". Sie haben also alle die gleichen exakten Informationen über das Aussehen eines Charakters. (Ganz abgesehen davon kann man als Autor seinen Charakteren besonders viel Einzigartigkeit und Liebe mitgeben. Aber das ist nur meine Meinung.)

Meine 2. Frage: Beschreibt ihr eure Charaktere ausführlich oder wenig?


58.4 | Das Problem an Charakterbeschreibungen

Am Beispiel von Hermine Granger aus dem Harry-Potter-Universum wird ein Problem deutlich, das mit sehr genauen Charakterdarstellungen, aber auch fehlenden Charakterbeschreibungen einhergeht: Sind sie eine feste Regel oder bleibt noch Interpretationsspielraum? Sind offen gehaltene Beschreibungen eine Einladung dafür, den Charakter selbst zu interpretieren?

Beim Theaterstück des neuesten Werks "Harry Potter and The Cursed Child" wurde Hermine Granger von einer Frau verkörpert, die – Achtung, Schocker, Herzinfarkt – schwarz ist. Die südafrikanische Darstellerin Noma Dumezweni war in Augen vieler HP-Liebhaber eine schlechte Wahl, weil jeder von ihnen noch die Verkörperung Hermines durch Emma Watson, bzw. die Buchversion, in der nie eine dunkle Hautfarbe erwähnt wurde, im Kopf hatte. J.K. Rowling selbst äußerte sich damals begeistert zur Wahl der Schauspielerin, doch es ging nun einmal nicht allen so.

Hermines Fall ist nur ein Beispiel, doch er verdeutlicht: Mangelnde Beschreibungen können zu Missverständnissen führen und dazu, dass mit verschiedenen Neuinterpretationen eines beliebten Charakters durch Fan-Art, Theaterstücke oder Verfilmungen können Lesererwartungen komplett verfehlt werden.

Meine 3. Frage: Was meint ihr? Ist der Fall Hermine ein Argument für eine möglichst detailgetreue oder eher allgemeine Charakterbeschreibung? Und findet ihr, dass nach der Filminterpretation der Figur durch Emma Watson eine ähnlich aussehende Schauspielerin hätte gecastet werden sollen?


Frohes Schreiben!

Pim Cline

P.C.'s SchreibratgeberWhere stories live. Discover now