"Sport ist Mord", hab's gehört und kann's bestätigen

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Fluchend zog ich meine Jeans an und versuchte dabei, so wenig unnötige Bewegungen wie möglich zu machen. Am liebsten würde ich wieder rein laufen und dieser Mistkuh ins Gesicht treten. Die Versuchung war durchaus da, aber es waren für meinen Geschmack eindeutig zu viele Zeugen anwesend. Aus der Nummer würde nicht einmal ich raus kommen. Die Rache musste also warten.

„Geht's?", wollte Kim wissen, die mich aufmerksam beobachtete und meine Stirnfalten wohl falsch gedeutet haben muss.
„Ja, ich werde schon nicht dran sterben. Ich mache mir eher um Heather Sorgen, weil wenn ich sie in die Finger bekomme, dann-" Die Schulklingel unterbrach meine Mordfantasien und erinnerte mich daran, dass ich einfach nur so schnell wie möglich nach Hause wollte. Seufzend schnappte ich mir meine Tasche und ging zusammen mit Kim nach draußen, bevor die Meute herein kam und mich begaffte, wie einen Autounfall.

Vor der Tür erwarteten uns die Jungs und sie begleiteten -oder eher eskortierten- uns zum Auto. Sie wollten mich wohl von hier weg bekommen, bevor ich mich zu Heather vorkämpfen konnte. Aber sind wir mal ehrlich, selbst wenn ich jetzt nicht so angeschlagen wäre, hätte ich gegen die Anabolikerbande nicht die geringste Chance gehabt.

Paul drückte mich ungefragt auf den Beifahrersitz und quetschte sich nach hinten zu Kim und Quil. Jared fuhr mich als erstes nach Hause, er hatte wohl Anweisungen bekommen. Er hatte noch nicht mal richtig angehalten, da war Paul auch schon aus dem Auto gesprungen und zog mich raus. Ich konnte gerade so noch meine Tasche packen, bevor er die Tür zuknallte.

„Das ist also deine Definition von 'Ich bringe dich nach Hause'? Und jetzt lass mich bitte los, das tut weh, wenn du so an mir rum zerrst", murrte ich und riss mich los. Paul wollte etwas erwidern, doch ich war schon Richtung Tür losgelaufen und öffnete sie.

Im Flur kam mir mein Bruder entgegen, der sich gerade Schuhe anzog. „Was ist passiert? Du hast diesen Killerblick drauf wie damals, als Joyce Barker in der Vorschule deinen Lieblingsteddy geköpft hat"
„Heather hat mich beim Basketball absichtlich umgestoßen", brummte ich und warf meine Tasche in die Ecke.
„Und wie kommt es, dass sie noch lebt und du nicht im Knast sitzt?", fragte er und wirkte ernsthaft überrascht.
„Deine Bande an Verräteraffen hat mich aufgehalten", zischte ich und deutete in Richtung Holzkopf, der an der Tür stand und uns beobachtete. Ich konnte genau sehen, wie Masons Laune in den Keller ging, aber er beherrschte sich und nickte ihm nur zu. Wow. „Musst du wieder Wachhund spielen?"

„Ja, hab Dienst mit Sam. Und ihr wollt...?" Er beendete seinen Satz nicht, sondern schaute misstrauisch abwechselnd Paul und mich an.
„Der Schwachkopf wollte nur sicher gehen, dass ich Heather nicht irgendwo auflauere und ihr nicht doch ins Gesicht trete" Als ob ich es nicht doch schaffen würde. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, kommt es da auch nicht so schnell wieder heraus. Paul konnte nicht rund um die Uhr an meiner Seite stehen und aufpassen, dass ich keine Dummheiten anstelle. „Und jetzt werden wir ganz brav Hausaufgaben machen"

Mase murmelte etwas vor sich hin, dass ich nicht verstand und umarmte mich zum Abschied. Paul warf er nur einen scharfen Blick zu und verschwand nach draußen.
Meine Tasche vor mich her kickend -wenn Mom das wüsste, wäre ich einen Kopf kürzer - ging ich ins Wohnzimmer und packte meine Sachen aus.

„Wir machen jetzt wirklich Hausaufgaben? Aber wir haben doch letztens erst welche gemacht", stöhnte er genervt und verschränkte schmollend seine Arme vor der Brust.
Ich blinzelte ihn an. „Stell dir vor, Hausaufgaben macht man immer dann, wenn man welche aufbekommen hat. Und -welch Überraschung- unsere Lehrer geben uns täglich welche"

„Das hat doch eh alles keinen Sinn mehr", knurrte er und ballte seine Hände zu Fäusten. Sein Kiefer war angespannt und das leichte Zittern entging mir ebenfalls nicht. Ein Teil von mir wollte es einfach auf sich beruhen lassen, aber der andere Teil war natürlich schrecklich neugierig.

„Wie meinst du das?" Na klar, die Neugier siegte.
Paul zuckte nur mit den Schultern und antwortete nicht. Stattdessen legte er sich hin und würdigte mich keines Blickes mehr.

Ich konnte gerade so dem Drang widerstehen, nachzuhaken und fing schweigend an, Bio hinter mich zu bringen. Als es geschafft war, musterte ich den Holzkopf, der sich keinen Zentimeter bewegt hatte. Vorsichtig stupste ich ihn an und wartete auf eine Reaktion, die nicht kam. Ich richtete mich auf und stellte fest, dass er eingeschlafen war. Wow.
Ich seufzte erneut und hörte plötzlich, wie etwas in seiner Tasche vibrierte. Aus Gewohnheit wollte ich nachsehen, doch dann hielt ich inne, als ich mir ins Gedächtnis rief, dass es gar nicht mein Handy war und Paul stinksauer sein würde, wenn ich in seinen Sachen wühle. Andererseits könnte es auch ein wichtiger Anruf von Sam sein, der ihn über ein Problem informieren wollte.

Also öffnete ich kurzerhand die Tasche und suchte nach dem Handy. Gerade, als ich es in der Hand hielt, legte der Anrufer auf. War ohnehin eine unbekannte Nummer, da wäre ich nicht dran gegangen. Ich bezweifelte stark, dass er Sam nicht eingespeichert hatte. Doch dann erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Der Bio-Test, den Paul so verdächtig schnell weggepackt hatte. Ich wusste genau, dass es falsch war, trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, nachzusehen. Mit gerunzelter Stirn begutachtete ich die Blätter und musste zu meiner Ernüchterung feststellen, dass er gerade mal zwei Fragen beantwortet hatte.

„Schnüffelst du immer in fremden Sachen rum?"
Erschrocken warf ich die Blätter hinter mich, als könnte ich so meine Tat verbergen und sah Paul unschuldig an. Jedes Blatt flatterte so langsam durch die Luft, als würden sie es mit voller Absicht tun, nur um mich zu ärgern.
Er wirkte nicht sauer, nur schlecht gelaunt wie eh und je, also machte ich mir gar nicht erst die Mühe, ihn anzulügen. Wieder eine Nummer, aus der ich nicht kommen könnte. So ein verflixter Tag aber auch.

„Jemand hat versucht, dich anzurufen. Ich wollte nur sichergehen, dass es nicht Sam war, der einen Notfall einläutet- und den Rest kannst du dir sehr wahrscheinlich selber denken" Ich zuckte mit den Schultern und sammelte die Blätter wieder zusammen, um sie zurück in die Tasche zu stopfen. „Ich würde ja sagen, dass es mir leid tut, aber das wäre gelogen"
„Natürlich", schnaubte er und funkelte mich an.

Das ignorierte ich und sagte stattdessen: „Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hätte dir helfen können"
„Ich will keine Nachhilfe und wie ich eben sagte, es bringt sowieso nichts mehr"
„Natürlich bringt es was. Ein verhauener Test ist kein Todesurteil", warf ich ein und wollte ihn nur ermutigen. Doch das ging schief. Was hatte ich auch anderes erwartet.

Jetzt war Paul richtig wütend. Er zitterte ganz fürchterlich und ich könnte schwören, dass sein Umriss flackerte. „Ey, wag es nicht, dich jetzt zu verwandeln. Meine Mom bringt mich um, wenn dem Sofa was passiert!", brüllte ich, was ihn offenbar so erschrak, dass er mich erstaunt ansah, als hätte ich ihn ordentlich geohrfeigt und sich augenblicklich beruhigte. Den Trick musste ich mir unbedingt merken! Auch wenn ich zugeben musste, dass ich mich selber erschrocken hatte. „So und nun sagst du mir, was los ist und warum du so wütend bist", sagte ich mit der ruhigsten Stimme, die ich gerade aufbringen konnte.

„Es ist nichts", brummte er und machte Anstalten, aufzustehen. Doch ich packte ihn an der Schulter, ließ mich im selben Atemzug neben ihn fallen und zog ihn so wieder runter aufs Sofa. Meine Güte, das muss unglaublich cool ausgesehen haben. Warum verdammt war in solchen Momenten keine Kamera auf mich gerichtet, aber wenn verfluchte Möwen hinter mir her waren?

„Du bist ein cholerischer Hitzkopf. Wenn du 'nichts' sagst, kurz nachdem du beinahe ausgerastet bist, unterstützt das nicht gerade deine Glaubwürdigkeit"
„Lass es einfach gut sein, Tori. Okay?" Er schüttelte meine Hand ab.
Unsere Blicke trafen sich. „Du weißt genauso gut wie ich, dass ich das nicht kann"
Paul seufzte und schloss seine Augen. „Kannst du einmal eine Ausnahme machen?"
„Kann eine Schildkröte singen?"
„Du bist unglaublich"
„Unglaublich toll, dass hatten wir schon. Also komm, sag's mir" Paul starrte schweigend auf seine Finger und kaute auf seiner Lippe rum. „Wenn du mir jetzt kein Mordgeständnis machst, wird es doch wohl halb so wild sein"
„Ach, seinen Abschluss nicht zu schaffen, ist also halb so wild?"
„Was? Wie meinst du das?" Verdammt Tori, was meinte er wohl damit?, rügte ich mich innerlich und schlug mir imaginär gegen meine Stirn.

„Wie sollte ich das wohl meinen?", knurrte er mich an. „Siehst du, genau deswegen wollte ich nichts sagen. Jetzt hältst du mich für einen absoluten Vollidioten"
„Ja, das tue ich, allerdings schon seit meinem ersten Tag in La Push und es hat nichts mit dem zu tun, was du mir vor zehn Sekunden gesagt hast"
„Ach nein?", zischte er ungläubig. „Es muss doch für dich Oberstreber eine Schande sein, dass du dich mit so etwas wie mir abgeben musst" Dieses Mal konnte ich nicht verhindern, dass er aufstand. Er ging mit großen Schritten um das Sofa herum und blieb stehen.
„Das ist nicht wahr- und nebenbei bemerkt ziemlich gemein. Denkst du wirklich so von mir? Wenn ja, dann bist du tatsächlich der Dummkopf, für den du dich hältst"

Paul starrte mich an, als wären mir ein zweites Paar Arme gewachsen. „Und jetzt sei ehrlich, wie schlimm ist es?"
Ich stellte mich vor ihm hin und sah ihn abwartend an. Es erstaunte mich, dass er sich so sehr dafür schämte. Dass er sich vor mir schämte.

„Ziemlich schlimm", gab es zu. „Meine Noten sind so ziemlich im Keller. Bis jetzt hat mich Sport immer gerettet, aber das wird mir bei meinen Abschlussnoten nicht helfen können, weil es anscheinend kein relevantes Fach ist"
„Und lernen ist nichts für dich?"

Er schnaubte. „Wann soll ich das bitte machen? Ich habe Verpflichtungen dem Rudel gegenüber und im Moment kann ich mich eh nicht konzentriert, weil meine Gedanken ständig bei d-" Er stockte, doch er musste den Satz nicht beenden. Ich wusste auch so, was er sagen wollte. Eine Welle an Schuldgefühlen schwappte auf mich ein und ich versuchte, sie erst einmal beiseite zu tun.

„Warum bittest du Sam dann nicht darum, dass du ein bisschen mehr Zeit für dich bekommst?", schlug ich vor. „Warum fragst du nicht nach Hilfe?"
„Weil...", fing er an, doch beendete auch diesen Satz nicht.
„Weil du zu stolz bist", schlussfolgerte ich und seufzte leise. „Das kenne ich nur zu gut"
„Es ist eh zu spät, ich kann mich dieses Mal nicht retten"
„Wer sagt das?"
„Jeder Lehrer"
„Das Schuljahr hat aber noch ein paar Monate und die Abschlussprüfung macht einen Teil der Gesamtnote aus. Wenn du dafür anfängst, vernünftig zu lernen, kannst du es immer noch schaffen. Vielleicht nicht mit Bestnoten, aber immerhin hast du dann deinen Abschluss in der Tasche"

Ein kleiner Hoffnungsschimmer glitzerte in seinen Augen. „Meinst du?"
Ich nickte. „Da bin ich mir sogar ziemlich sicher" Vorsichtig nahm ich seine Hand in meine und drückte sie leicht.
„Ich wusste gar nicht, dass du so nett sein kannst" Naja, immerhin scherzte er wieder.
„Das ist mir auch neu", gab ich zurück und zog meine Hand weg. Ich setzte mich auf die Rückenlehne vom Sofa und grinste. Auch Pauls Mundwinkel zuckten, was er mit einem Räuspern überspielten wollte.
„Danke", sagte er dann und umarmte mich. Das kam so unerwartet, dass ich zusammen zuckte und beinahe rückwärts das Sofa runter gekippt wäre.

„Wofür war das denn?", fragte ich irritiert.
Er zuckte mit den Schultern und antwortete: „Bisher hat noch nie jemand an mich geglaubt. Es ... tat irgendwie gut, sowas mal zu hören"

Sein Vater hatte wohl keine netten Worte für ihn übrig. Dieser Gedanke bereitete mir ein flaues Gefühl im Magen. Meine Eltern und ich lagen uns öfter mal in den Haaren, aber sie unterstützten mich immer. Vorausgesetzt, ich hatte nicht wieder eine Schnapsidee oder es hatte etwas mit Rache zu tun. Da hörte es wohl mit der familiären Hilfsbereitschaft auf. Und das Rudel war ein Haufen Trottel, deren Gefühlswelt sich auf 'Hunger' und 'Müde' beschränkte.

„Wenn du weiterhin aufbauende Worte zu hören bekommen willst, nenn mich nie wieder Oberstreber", sagte ich und boxte ihn ganz sacht, damit ich mir nicht doch noch die Hand brach.
Ich entlockte ihm nun doch ein Grinsen. „Geht klar" Dann wurde er wieder ernst und atmete tief durch. „Tust du mir einen Gefallen und ... und sagst den anderen nichts davon?"
„Natürlich, darum hättest du mich mal bitten müssen. Und jetzt frag mich, was du eigentlich fragen wolltest"
Er sah so aus, als wollte er es abstreiten, dann entschied er sich anders. Er atmete mehrmals tief durch, ehe er mit der Sprache heraus rückte. „Hilfst du mir?"

„War das so schwer?", lachte ich und boxte ihn erneut, dieses Mal sachte gegen den Arm.
„Jaja, mach dich nur lustig über mich. War wohl zu viel Nettigkeit für heute, was?", meinte er schnippisch und wandte sich ab.

„Ich will es ja nicht übertreiben, das wäre echt zu viel des Guten, nicht, dass du dich noch daran gewöhnst. Aber ich bin heute unfassbar gnädig und gewähre dir noch diesen einen Gefallen. Ich helfe dir"
„Danke", hörte ich ihn murmeln, ehe er sich mit einem verdächtig breiten Grinsen zu mir umdrehte. „Dafür helfe ich dir auch, deine Sportnote zu verbessern"

„Was soll das denn heißen?", rief ich empört. Was drehte er den Spieß denn jetzt plötzlich um? Dämlicher Idiot!
„Dass du unsportlicher als die 100-jährige Dame zwei Straßen weiter bist"
„Das ist nicht fair, ihr Indianer hier habt auch wahnsinnig gute Gene!", keifte ich beleidigt zurück.
Paul legte grinsend seinen Kopf schief. „Du hast die Gene auch"

„Aber nur zur Hälfte!", gab ich lautstark und mit fuchtelnden Armen zu bedenken und funkelte ihn an. „Und meine Sportnote ist mir relativ egal. Ich hab mir schon immer eine Drei ermogelt und damit war ich bisher ganz zufrieden"
„Ein Oberstreber wie du gibt sich mit einer gammeligen Drei zufrieden?"

Ich wünschte, ich wäre ein kleines bisschen stärker. Dann nämlich würde ich ihm die Nase brechen und ... ach, machen wir uns nichts vor, selbst wenn ich stärker wäre, wäre er immer noch schneller und er würde mich auf den Boden werfen, ehe ich zum Schlag ausholen konnte.

„Nenn mich nicht so!", fauchte ich. „Nur weil ich gute Noten habe, bin ich kein Streber und wie gesagt, meine Sportnote interessiert mich nicht"
„Auch nicht, wenn es das einzige Fach ist, in dem Heather besser ist? Das fuchst dich so gar nicht?" Mit einem siegessicheren Grinsen hob er eine Augenbraue und schnipste gegen meine Nase.
Erst wollte ich etwas schnippisches erwidern, doch ich musste mir selbst eingestehen, dass er einen wunden Punkt erwischt hatte. „Nur aus hypothetischem Interesse... welche Note hat sie denn?"
„Eine zwei, also es ist nicht unmöglich, sie zu schlagen. Rein hypothetisch natürlich" Paul grinste schief und setzte sich aufs Sofa und packte seine Sachen aus.

Seufzend schwang ich mich mehr oder weniger -eher weniger- elegant über die Lehne und landete neben ihm. „Okay, ich hab angebissen. Ich mache ab jetzt Sp- Sp-" Verdammt, alleine bei den Gedanken, es auszusprechen, wurde mir speiübel.
„Sport?", half mir Paul breit grinsend weiter.
„Jaja. Aber nur so viel, dass es für eine gute Note reicht! Mehr als unbedingt nötig werde ich auf gar keinen Fall machen, nur damit das klar ist"
„Hab verstanden, Oberstreber"
„Ach sei doch ruhig, Holzkopf. Lass uns jetzt anfangen, dir ein bisschen Wissen einzuprügeln"


Es stellte sich heraus, dass wir noch einiges an Arbeit vor uns hatten. Paul war schnell genervt, wenn er eine Aufgabe nicht hinbekam, aber immerhin hatte er nur drei Stifte durch die Gegend geworfen. Ich hatte mit größeren Verlusten gerechnet. Nach zwei Stunden entschied ich, dass es für heute reichte. Er war bereits so gereizt, dass ich ihn nach draußen schicken musste, damit er eine Runde drehen konnte, um sich ein wenig abzureagieren.

Kurz danach tauchte Jared auf, der ankündigte, dass er uns mit zum Strand nehmen würde, wo wir uns mit den anderen trafen. Er warf einen Blick auf Pauls hochroten Kopf, doch ich schüttelte den Kopf, sodass er nur mit den Schultern zuckte und den Motor startete. Besser, wenn er nicht nachfragte.

„Was machen wir denn, wenn wir angekommen sind?", fragte ich, um die Stille zu unterbrechen.
„Nichts besonderes. Wir sitzen bisschen zusammen, spielen Fußball. Das Übliche halt. Sam und Mason stoßen später dazu"
„Das Übliche halt", wiederholte ich langsam und runzelte die Stirn. „Ihr tut echt nichts anderes, kann das sein? Euer Leben ist echt langweilig"

Kurz herrschte Stille im Auto. Dann sagte Paul: „Dass wir Werwölfe sind, weißt du aber schon noch, oder? Ich meine, wir verwandeln uns und kämpfen gegen Vampire und so"

Ich blinzelte. „Ach ja, stimmt. Gut, dann ist euer menschliches Leben langweilig!", beharrte ich, damit ich wenigstens in irgendeiner Art und Weise Recht hatte. Auch ohne ihn sehen zu können, wusste ich, dass Paul seine Augen verdrehte und Jared hatte dem nichts mehr hinzuzufügen. Es war ziemlich unbefriedigend, da es kein richtiger Sieg war, aber hey, man nimmt, was man kriegt.

Wir erreichten den Strand zeitgleich mit Leah und Seth. Letzterer begrüßte mich freudig mit einer Umarmung, die ich nur zaghaft erwiderte. Leah nickte mir schlicht zu und stapfte durch den Sand. Ihr Bruder zuckte entschuldigend mit den Schultern und zog mich mit sich zu den anderen, die bereits auf den Holzstämmen saßen. Während Seth in einem für ihn normalen Tempo ging, rannte ich beinahe neben ihm her.

„Ey, Kollege. Schalt mal einen Gang runter, meine Beine sind nicht so lang wie deine" Hinter uns kicherten Jared und Paul, die das Schauspiel amüsiert beobachtet hatten. Ich kickte aus Versehen einen Ladung Sand nach hinten und hörte mit genüßlicher Genugtuung die verärgerten Schreie.

„Oh", machte Seth und fuhr sich verlegen durch die Haare. „Tut mir leid, ich laufe nicht oft mit ... kleinen Menschen rum" Nun prusteten die beiden Schwachköpfe wieder laut los und bekamen sich nicht mehr ein.
„Hey, Tori", rief Emily und rettete mich vor einem ganz, ganz dummen Fehler.
„Danke", sagte ich, ohne nachzudenken. Verdammt, Tori! „Ähhhh, hey Emily. Wie geht's?", fragte ich schnell, bevor sie in allzu großer Verwirrung bemerkte, wie bescheuert ich manchmal war.

„Oh, gut. Ich hab heute ein neues Rezept für Kekse ausprobiert, aber ich brauche noch eine geeignete Testperson, die sich opfert..."
„Sprich nicht weiter", unterbrach ich sie. „Du hattest mich schon bei Rezept" Grinsend griff ich in die Schale, die sie mir reichte und biss genüsslich hinein. „Sind genehmigt", nuschelte ich mit vollem Mund und nahm mir noch einen als Nachtisch.
„Sehr schön. Komm, setzen wir uns"

Wir unterhielten uns eine ganze Weile, also die Mädels und ich, wobei ich mehr Zuhörer war, während die Jungs wie eine wild gewordene Horde Affen, die sie ja auch eigentlich waren, dem Ball hinterher liefen und sich gegenseitig wüste Beleidigungen an Kopf warfen.

Als Sam und Mase auftauchten, warf sich mein Bruder natürlich direkt ins Getümmel, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Er warf mir nur sein Shirt ins Gesicht, damit ich es halten konnte. Mir fiel es aber ganz aus Versehen auf den Boden. Einige Meter entfernt. Richtung Wasser. Ups.

Sam begrüßte seine Frau mit mehreren Küssen und einigen Liebesbekundungen, woraufhin Kim ein schmalziges „Awww" von sich gab. Leah hüstelte leicht und wandte sich ab. Und ich? Ich ließ meinen Blick schweifen und schaute nach oben in den Himmel. Hier in dieser Einöde konnte man die Sterne sehen. In New York war es zu hell, auch nachts. Die Luft war verschmutzt und stank. Hier war sie rein und die salzige Meerluft kribbelte in der Nase.

„Na, denkst du etwa gerade an mich?" Ich zuckte leicht zusammen, als Paul mir die Wort ins Ohr flüsterte.
„Träum weiter", raunte ich zurück und stieß ihn weg. Lachend ließ er sich neben mir nieder. Nach und nach kamen auch die anderen zu uns rüber und versammelten sich ums Feuer. Dass die Jungs ihr heiliges Spiel jetzt schon unterbrachen, bedeutete nur eins: Hunger. Sam und Quil übernahmen das Grillen, Seth verteilte Teller und Besteck und die beiden Welpen kümmerten sich um die Getränke. Was für ein hervorragender Service, daran könnte man sich ja glatt gewöhnen.
Irgendwer machte Musik an und die Stimmung wurde lockerer.

Ich begnügte mich damit, an meinem Stück Hähnchen zu knabbern und lauschte mal hier und mal dort. Es gab allerdings nichts spannendes zu erfahren. Ein Seitenblick verriet mir, dass Pauls Blick ständig auf mir ruhte. Mase funkelte ihn immer wieder wütend an. Nichts außergewöhnliches also. Langsam akzeptierte ich meinen Alltag hier in La Push, an dem jeder Tag irgendwie gleich war.

„Wenn die beiden Schwachköpfe sich heute nicht zurück halten können, setzt es was", sagte Sam und riss mich aus meinen Beobachtungen.
„Ich wünsche dir viel Spaß" Ich trank einen Schluck Cola und lehnte mich zurück.
„Bis jetzt haben sie doch noch nichts getan", beruhigte ihn Emily und legte ihm eine Hand an die Wange. Sam wollte noch etwas erwidern, doch seine liebreizende Frau gab ihm einen kleinen Kuss und sein Ärger war vergessen.

Ich grinste. Sie hatte ihn vollkommen in der Hand. Der große, mächtige Alphawolf hatte einen verdammt weichen Kern.
Immer noch mit einem Lächeln im Gesicht wandte ich mich ab und blickte Paul direkt in seine Augen. Ertappt räusperte er sich und schaute schnell weg.

„Mach doch einfach ein Foto", neckte ich ihn und konnte ganz genau sehen, dass er seine Augen verdrehte. Er schnippste mir gegen mein Ohr, woraufhin eine Hand voll Sand in seinem Nacken landete.
Je später der Abend wurde, desto lustiger wurde es, das musste ich leider zugeben. Irgendwann hatte ich nämlich angefangen, die Jungs mit Marshmallows zu bewerfen, die sie dann wie Hunde mit dem Mund auffingen. Nach jahrelanger Übung und einem Haufen Smarties, die wahrscheinlich immer noch unter dem Sofa vergammelten, war Mase mit Abstand der Beste.

Als er auch den letzten klebrigen Klumpen auffing, applaudierte ich und rief: „Braver Junge! Das hast du ganz fein gemacht! Ja, ein Feini bist du", woraufhin die ganze Runde zu grölen begann. Als sich dann alle beruhigt hatten, erklärte Sam den Abend für beendet. Wir hatten ja morgen noch Schule.

Die Gruppe löste sich langsam auf und verteilte sich auf die verschiedenen Autos und ich landete zusammen mit Mase, Kim und Quil in Jareds Wagen. Paul nickte mir zum Abschied nur einmal kurz zu, dann setzte er sich zu Sam ins Auto.
Auf der Rückfahrt merkte ich, wie müde mich der Tag gemacht hatte und jetzt, wo ich mich so langsam entspannen konnte, spürte ich auch meine blauen Flecken in den Seiten wieder. Diese dämliche Kuh werde ich noch das noch mächtig bereuen lassen!

Jared setzte mich und meinen Bruder Zuhause ab. Ich machte mich schnurstracks auf den Weg ins Bett, während Mase in der Küche bereits mit Tellern klapperte und sich noch was zu essen machte. „Gute Nacht, du feines, kleines Hundilein", rief ich die Treppe runter und hörte noch ein genervtes Schnauben, ehe ich die Tür zu machte und mich beinahe zu Tode erschrak, als Paul plötzlich vor mir stand.

„Verfluchte Scheiße", schimpfte ich im Flüsterton. „Musst du dich jedes Mal so anschleichen?" Wütend schob ich ihn zur Seite. Ich hatte den ganzen Tag eine Jeans an gehabt, ich brauchte jetzt unbedingt meine Jogginghose.
„Ich gehe mich umziehen", murmelte ich und schnappte meine Sachen und machte mich im Bad fertig fürs Bett. Als ich zurück ins Zimmer kam, lag Paul bereits in meinem Bett.

„Bitte sag mir, dass du vorher wenigstens duschen warst", zischte ich. Er ist eben rumgelaufen wie ein Bekloppter. „Ich hab weder Lust auf Sand in meinem Bett noch auf deinen Schweiß an meiner Decke"
„Reg dich ab", sagte er beschwichtigend und grinste. „Den Sand habe ich größtenteils wieder abgeklopft"
Wütend legte ich meine Stirn in Falten. „Sei nur froh, dass ich dich nicht schlagen kann, ohne mir selbst die Hand zu brechen!", fauchte ich. „Was willst du eigentlich schon wieder hier?"

Pauls Grinsen verrutschte einen kurzen Moment und für den Bruchteil einer Sekunde sah er ernsthaft verletzt aus. Doch in meiner Wut nahm ich es gar nicht wirklich wahr. Eigentlich wusste ich gar nicht, warum ich mich plötzlich so über ihn ärgerte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er unangekündigt hier aufkreuzte und mein Bett kontaminierte.
„Was ist denn mit dir? Wenn du willst, dass ich gehe, sag das doch einfach" Er wirkte leicht verstimmt, was ich ihm auch nicht verübeln konnte.

„Ne, schon gut", murmelte ich und legte mich ebenfalls hin.
Er schüttelte seinen Kopf und sagte stichelnd: „Ihr Mädchen seid echt alle furchtbar kompliziert. Und das sage ich, der sich mit 15 plötzlich in einen Wolf verwandeln konnte"

„Halt einfach deine Klappe" Ich warf ein Kissen zu ihm rüber. Er fing es geschickt auf und beäugte mich misstrauisch.
„Hast du etwa deine Tage?"
„Hast du deine?", gab ich zurück und zog eine Augenbraue hoch.
„Witzig"

„Bei dir würde mich gar nichts mehr wundern" Nun bekam ich das Kissen ins Gesicht. Natürlich konnte ich es mit meinen Faultier-Reflexen nicht mal ansatzweise abfangen und ließ es einfach geschehen. „Holzkopf", murrte ich.
„Also, da wir ja heute so fleißig gelernt haben, wäre morgen deine Sportnachhilfe dran"
„Du weißt echt, wie man einem die Stimmung vermiesen kann. Und was heißt hier fleißig? Du hast doch nur Stifte durch die Gegend geworfen"

„Es waren nur drei", verteidigte er sich. Ziemlich kläglich, möchte ich erwähnen. „Trotzdem wäre es nur fair, wenn du jetzt leiden musst"
„Du gibst also zu, dass Sport scheiße ist?"
„Wenn man so wie du keine fünf Meter ohne Seitenstiche laufen kann- dann ja"
„Hey, ich schaffe schon etwas mehr!"
„Verzeihung, die 40 Zentimeter wollte ich nicht unterschlagen"
„Ich unterschlage dich gleich!"
„Aber brich dir dabei nicht die Hand", gab er amüsiert zurück, während ich mich genervt von ihm wegdrehte.
„Arsch", gab ich zurück.
„Zicke", erwiderte er und stupste mich an. „Willst du jetzt schon schlafen?"

„Das war eigentlich mein Plan, ja" Ich schaltete das Licht aus und kuschelte mich in meine Decke.
„Hm", machte er daraufhin nur und raschelte ebenfalls mit der Decke.
„Schläfst du jetzt hier?", fragte ich mit leichtem Entsetzen in der Stimme. Dann war's das wohl mit meiner Ruhe, die ich mir heute mit meiner überschwänglichen Nettigkeit verdient hatte.
„Das war eigentlich der Plan, ja", wiederholte er meine Worte.

Ich drehte mich zu ihm um. „Jetzt wirklich? Spazierst du dann morgen früh mit mir nach unten, damit Mase dich sieht? Oder hüpfst du vorher aus dem Fenster und klingelst dann an der Tür, weil du zufällig in der Nähe warst?"
„Ich nehme Variante zwei. Ich bin zu hübsch, um zu sterben"
Schnaubend zog ich meine Decke höher.

„Stimmst du mir da etwa nicht zu?"
„Nope"
„Du findest mich also hässlich?"
„Hab ich nie gesagt"
„Du hast verneint, dass ich hübsch bin"
„Exakt"
„Also bin ich doch hässlich?"
„Ne"
„Kann es sein, dass du mich einfach nur verwirren willst?"
„Bist ja doch ein schlaues Kerlchen"

Ein leises Schnauben war zu hören, gefolgt von einem weiteren Rascheln. Dann hatte ich ein weiteres Kissen im Gesicht.
„Dir auch eine gute Nacht", nuschelte ich unter dem Kissen, nahm es von meinem Gesicht, drehte mich um und legte das Kissen neben mich, um damit zu kuscheln.
Kurz herrschte Stille.

„Kriege ich das Kissen zurück?", flüsterte Paul.
„Dreimal darfst du raten", sagte ich und presste das Kissen fester an mich, da ich einen gegnerischen Angriff erwartete. Der kam auch tatsächlich, nur anders als erwartet. Der Hund riss mir einfach das Kissen unterm Kopf weg.
„Hey!"

„Ich schätze, ich hab richtig geraten"
„Gut, kann ich jetzt schlafen?", fragte ich und gab um des Friedens Willen einfach auf.
„Dreimal darfst du raten" Ich konnte sein dreckiges Grinsen selbst im Dunkeln sehen, ohne in seine Richtung zu schauen.
„Dann gehe ich mal eben Mason wecken und rufe auf dem Weg mal Sam an"
„Tust du eh nicht", zischte er.

Nun lag es an mir zu grinsen. „Wollen wir wetten?" Stille. „Gute Nacht", sagte ich und legte mir mein Kissen unter meinen Kopf.

„Nacht", hörte ich ihn nur noch brummend sagen und dann war tatsächlich Ruhe.
Bis auf unser Rascheln war nichts mehr zu hören und nach einem so anstrengenden Tag -immerhin hatte ich heute Sport gemacht!- war es auch kaum verwunderlich, dass ich sehr schnell einschlief.

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