30. Kapitel - Oberflächlich

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Zügig lief sie auf die Tür zu, hinter der die meisten verschwunden waren. Ich drehte mich noch einmal um. Nur die Hälfte der Arbeiter schien Pause zu haben.

In dem Raum, in den wir traten, standen Klapptische mit Stühlen, auf denen überwiegend Frauen saßen und sich unterhielten oder aßen.

„Möchtest du etwas essen?"

Mein Blick glitt zurück zu dem Mädchen, das neben mir stand, bevor ich zögernd den Kopf schüttelte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Essen hier umsonst sein würde.

„Eine Portion ist gratis. Also falls du doch Hunger haben solltest, kannst du dir da was holen."

Sie zeigte zuerst auf den Wagen mit dem Essen, ehe sie zu dem Tisch nickte, an dem bereits einige Menschen Platz genommen hatten. „Wir sitzen da."

Ich nickte lächelnd. „Warum gibt er uns hier gratis Essen, wenn wir für ihn arbeiten?", fragte ich, da mir dieser Gedanke nicht aus dem Kopf ging.

„Ich weiß nicht. Es sind nur Reste, aber wenn man sich an die Regeln hält, kann Elvis wirklich nett werden."

Als ich überrascht die Augenbrauen hob, lachte sie. „Ja, ich weiß, glaubt man nicht."

Ich schüttelte den Kopf und musste ebenfalls grinsen. „Nicht wirklich, nein." Ich nickte in die Richtung des Essens. „Ich hol mir dann mal was." Mit diesen Worten entfernte ich mich von ihr.

Das Essen war nicht vielfältig, aber dennoch lief mir das Wasser im Mund zusammen, als ich die kalten Kartoffeln und die Sandwichs entdeckte. Ein wenig abseits stand eine Kiste mit Gurken, Tomaten und andere Gemüsesorten, die nicht mehr frisch waren.

Ohne groß nachzudenken, nahm ich mir einen der Tabletts und griff nach dem vertrockneten Gemüse und den kalten Kartoffeln, ehe ich zurück zu den Anderen lief. Die meisten am Tisch schienen gar nicht zu bemerken, dass ich mich zu ihnen an den Tisch setzte, bis das Mädchen, das ich bereits kennengelernt hatte, ihre Aufmerksamkeit erregte. „Leute, das ist übrigens..." Sie hielt inne, als ihr auffiel, dass sie noch gar nicht meinen Namen kannte.

„Aleyna", ergänzte ich sie, während ich mich auf den freien Platz neben ihr niederließ.

„Schön dich kennenzulernen. Ich bin Diana." Sie strahlte immer noch wie die Sonne an heißen Sommertagen. Alle, die an diesem Tisch saßen, schienen sie zu mögen. Vermutlich faszinierte sie, genauso wie mich, die Offenheit mit der sie anderen begegnete. Die meisten sahen sie an, als wäre sie der Frieden in Person.

Ich biss in eine der Kartoffeln, als jemand plötzlich leicht an meinen Haaren zog und ich erschrocken den Blick hob. Diana hatte sich meine Haare nachdenklich um den Finger gewickelt.

„Du hast wirklich schöne Haare", bemerkte sie, bevor ihre Augen wieder auf meine trafen. Ich lächelte etwas verwirrt über ihr plötzliches Kompliment und wandte mich wieder meinem Essen zu.

„Du auch", gab ich zurück. An das ganze musste ich mich erst wieder gewöhnen. An den Smalltalk und die oberflächlichen Komplimente, die man führte und bekam, wenn man nicht auf der Flucht war. Früher war es genauso gewesen. Vor dem Krieg. Es war alltäglich und normal gewesen, aber das Gefühl abzulegen, wertvolle Zeit durch solche Gespräche zu verlieren, würde Zeit beanspruchen. Das hieß nicht, dass ich Komplimente nicht mochte. Es war nur so, dass ich nicht mehr an sie gewöhnt war und sie nicht mehr die gleiche Bedeutung trugen wie früher.

„Dankeschön", entgegnete Diana und griff nun in ihre Haare.

Ich wandte mich wieder meinem Essen zu und biss in eine der trockenen Gurken. Ich hatte lange keine Gurken mehr gegessen, weshalb sie auf einmal anders schmeckten. Besser.

„Woher kommst du eigentlich?"

Ich hielt inne. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass es nicht von Bedeutung war, woher ich kam, aber diesen Gedanken behielt ich für mich.

„Aus Griechenland." Zwar war es nicht die ganze Wahrheit, aber zu sagen, dass ich aus Syrien kam, erschien mir in diesem Moment zu kompliziert und anstrengend. Wahrscheinlich würden sie fragen, ob ich wegen des Krieges geflohen war und wie ich es bis hierhin geschafft hatte. Dafür war ich zu müde und zu faul.

Dianas Augenbrauen wanderten überrascht in die Höhe, als hätte sie nicht damit gerechnet. „Wie ist Griechenland so?"

Ich biss eine Weile auf meinem Essen, um mir eine geeignete Antwort zu überlegen, aber mir fiel keine ein. „Schön"; antwortete ich deshalb und bemerkte, dass sie mich aufmerksam von der Seite musterte. Fragend drehte ich mich mit einer Tomate in der Hand in ihre Richtung. „Ist was?"

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein. Du machst mich nur neugierig."

Ich schluckte die letzten zwei Tomaten hinunter, ehe ich meine Antwort weiter ausführte. „Griechenland ist deutlich wärmer als England, das kann ich euch jedenfalls sagen."

Ein Lachen erklang vor uns und mein Blick fand den eines braunhaarigen Mädchens, das uns gegenübersaß. Sie hatte riesigen Reh-Augen. „Tut mir leid, aber es ist wirklich amüsant, zu sehen, wie Diana an dem Versuch scheitert, mit dir ins Gespräch zu kommen."

Diana lachte leise. „Ja, ist mir auch schon aufgefallen."

Ich unterdrückte ein Grinsen. „Tut mir leid, falls das falsch rübergekommen ist. Ich muss mich nur erst an alles gewöhnen."

Diana nickte verständlich. „Und ich entschuldige mich dafür, dass ich manchmal so neugierig und aufdringlich sein kann."

Als das Knacken eines Lautsprechers durch den Raum hallte, standen wir auf und räumten unsere Tabletts auf den Tisch neben dem Wagen mit dem Essen. Danach verließen wir zügig den Raum und verfielen wieder in das bekannte Muster unserer Arbeiten.

Stunden vergingen, in denen ich die Reihen durchkehrte. Ab und zu stellte ich mir die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, am Ende alles aufzukehren, anstatt während der Arbeit sauber zu machen. Statt jedoch nach Antworten zu suchen, machte ich weiter.

Das wenige Licht, das durch die Fenster zu uns drang, verblasste langsam, bis Elvis plötzlich aus dem Raum trat, in dem er zuletzt verschwunden war, und das Licht einschaltete.

„Noch eine Stunde", rief er in den Raum, bevor er wieder in seinem Zimmer verschwand und wir da fortfuhren, wo uns seine Worte unterbrochen hatten.

Meine Arme brannten, mein Rücken schmerzte und meine Beine fingen langsam an zu zittern, aber ich kehrte weiter. Als hätte Elvis gespürt, dass ich kurz davor war, eine Pause zu machen, fing er an uns schweigend bei der Arbeit zu beobachten.

Ich atmete tief durch und kratzte den Rest meiner Kräfte zusammen, während mein Herz immer schneller gegen meinen Brustkorb schlug. Ich versuchte mich auf jeden neuen Besenstrich und Atemzug zu konzentrieren, ehe Elvis die ersten Arbeiter freistellte.

Als ich jedoch das nächste Mal aufsah, bemerkte ich, dass ich die Einzige war, die er noch nicht entlassen hatte.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt