32. Kapitel - Stille Schreie

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„Elvis hat übergezogen", erklärte ich und ließ mich auf meine Matratze fallen. Sofort entwich die Anspannung aus meinem Körper und meine Glieder schienen nicht mehr in der Lage zu sein sich zu bewegen. Langsam schlossen sich meine Augen.

„Willst du uns vielleicht auch verraten, wer zur Hölle Elvis ist?", entgegnete Malek und seine Stimme klang gereizt, weshalb sich meine Augen erneut öffneten.

„Elvis ist mein Chef", beantwortete ich seine Frage und setzte mich auf, um ihm Aadil aus den Armen zu nehmen.

„Meine Fresse", seufzte Malek und ließ sich zurück auf die Matratze fallen. „Ihr wisst nicht, wie kompliziert es sein kann mit einem kleinen Futzi auf die Toilette zu gehen. Und ich bin oft pinkeln gegangen."

Während ich Aadils Kopf an meine Brust drückte, lächelte ich bei den Worten meines großen Bruders. Ich glaubte ihm. Die Zeit ohne uns würde für ihn auch nicht einfach werden. Manchmal machten einen nicht die Tage fertig, an denen viel los war. Oft waren die schlimmsten Tage die, an denen beinahe nichts passierte, nur die Gedanken kreisten in unendlichen Schleifen und nährten sich von den eigenen Kräften.

„Wie war's?" Ich spürte, Maleks Blick auf mir, während ich wieder die umstehenden Menschen beobachtete.

Ich zuckte mit den Schultern. „Es war gut. Ich musste zwar länger bleiben, aber ich denke, das wird nicht immer so sein."

Meine Augen glitten zu ihm. „Aber ich habe auch keinen Vergleich", fügte ich hinzu, woraufhin er verwirrt die Stirn runzelte. „Das war mein erster Job", erinnerte ich ihn und Malek nickte, wirkte dabei jedoch mit den Gedanken ganz woanders zu sein.

„Themawechsel", schlug Ryan vor und zog sich den Rucksack von den Schultern, um ihn zu öffnen. „Ich habe was mitgehen lassen."

Vorsichtig zog er eine kleine Plastiktüte hervor und hielt sie uns hin. „Nehmt euch so viel ihr wollt." Ryans Blick lag auf mir, während er mir die Tüte hinhielt und ich neugierig hineinschaute. Sie war gefüllt mit Crackern, Obstriegeln und Sandwichs.

Ich griff hinein und zog eine Packung an Crackern hervor. Die anderen nahmen sich die Sandwichs.

Als ich Aadil ein kleines Stück hinhielt, biss er zufrieden ab. Lächelnd beobachtete ich, wie er den Geschmack von neuem Essen genoss. Meinen kleinen Bruder anzusehen, das kleine Gesicht und seine lebendigen Augen, die noch so viel nicht gesehen hatten, ließ mich zur Ruhe kommen.

Ich habe die Chance, ihm ein besseres Leben zu ermöglichen.

Tarek, Ryan und Malek unterhielten sich und jedes Mal, wenn ich einen der dreien lachen hörte, lächelte ich mit. Es war zwar gerade mal der erste Tag vergangenen, aber dennoch spürte ich bereits, dass sie dabei waren sich zu erholen.

Die Müdigkeit zog mich zurück auf die Matratze. Mit Aadil in den Armen drehte ich mich auf die Seite und lauschte ihren Gesprächen, ehe sich meine Augenlider langsam schlossen.

***

Mich weckte ein weibliches Flüstern. Irritiert öffnete ich die Augen und starrte geradewegs in die wunderschönen Augen meiner Mutter. Mein Atem stutzte, während sich meine Glieder anspannten und ich unfähig war mich zu bewegen.

Ihre Lippen formten sich stumm zu meinem Namen. Ein trauriges Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie kam immer näher, bis sie plötzlich ihre Hände auf meine Knie legte. Erschrocken wich ich zurück und zog die Beine an.

Verwirrt schaute sie mich an, bis ich erkannte, dass sie meine Reaktion verletzt hatte. Ich schluckte schwer.

Ihre Lippen bewegten sich, sie redete mit mir, aber ich konnte sie nicht hören. Verstand die Worte nicht, die ihren Mund verließen. Konnte nicht ihrer Stimme lauschen, die ich so sehr vermisste.

Es war, als hätte ich sie vergessen. Als hätte ich den Klang ihrer Worte vergessen.

Mein Kinn fing an zu zittern, als sie innehielt und mich fragend anschaute. Ehe jedoch einer von uns etwas sagen konnte, erstarrte ihr Blick plötzlich. Ihr Mund öffnete sich langsam.

Ihre Augen, die auf mich gerichtet waren, wurden groß. Ich sah, dass sie schrie, doch meine Welt blieb taub. Aber ich brauchte sie nicht hören, um den Schmerz zu spüren.

Ich erstarrte, als ich sah, dass eine dunkle Flüssigkeit aus ihrem Mundwinkel tropfte und sie kurzdarauf auf mir zusammensackte. Der Sauerstoff, der bis eben noch dafür gesorgt hatte, dass Adrenalin durch meine Adern jagte, wurde nun erbarmungslos aus meinen Lungen gepresst.

Regungslos lag sie so auf mir und rührte sich nicht. Für einen Moment waren wir beide erstarrt. Ich war erstarrt von dem Gefühl, meine Mutter in den Armen zu halten, obwohl ich gedacht hatte, dass ich sie nie wieder sehen würde.

Als ich realisierte, dass ich keine Luft mehr bekam, fing ich an zu zucken. Ich versuchte sie von mir zu schieben, mich zu befreien. Versuchte vor diesen großen Gefühlen zu fliehen.

Als ich dabei war aufzustehen, griffen die kraftlosen Hände meiner Mutter nach mir. Sie hob den Kopf und begegnete meinem Blick. Ihr Blick war leer und ausdruckslos. Sie erwischte mein Bein und hielt es so stark fest, dass es anfing weh zu tun.

Ich schrie. Ich schrie in der Hoffnung lauter als die vielen Emotionen sein zu können, die wie Wellen über mir zusammenbrachen. Sie waren da, meine Ängste. Ich konnte nicht verhindern, dass ich sie spürte.

Ich trat um mich und als sie endlich losließ, rannte ich los. Blickte nicht zurück, lief einfach durch die dichte Schwärze, die mich umgab. Da war nichts als Dunkelheit. Kein Weg, kein Anzeichen, das zeigte, dass ich mich überhaupt von der Stelle bewegte.

Ich lief so lange, bis es plötzlich nicht mehr Schwärze war, die mich umhüllte, sondern grelles Licht. Meine Augen fingen an zu schmerzen, weshalb ich mehrmals blinzelte, aber dennoch konnte ich nichts erkennen.

Ich sank auf die Knie, plötzlich verlassen von meinen Kräften. Ich schrie, aber hörte es nicht. Die Panik schlängelte sich meinen Hals hinauf und mischte sich unter meine Schreie, aber es blieb lautlos.

Ich legte die Arme um meinen Körper und zog die Knie an, während mein Körper anfing zu beben und Tränen über meine Wangen liefen. Die Angst fraß sich durch meine Gefühle, sodass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich sah nur noch die Angst, den Schrecken, die Augen meiner Mutter. Alles, von dem ich gedacht hatte mich abgewandt zu haben.

Als sich eine kalte Hand auf meine Schulter legte, zuckte ich erschrocken zusammen, stand auf und wollte weglaufen, aber konnte nicht. Ich rannte auf der Stelle, kam nicht weiter und blieb gefangen in meinen eigenen Schritten.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now