51. Kapitel - Aufplatzende Nähte

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Als ich den schwarzen Schatten der Lagerhalle dabei zusah, wie sie über die Erde tanzten, wurde ich langsamer. Ich wollte noch nicht reingehen und dem Tag beim enden zusehen. Ich hatte keine Lust, mich mühsam in den Schlaf zu schubsen und mit den Problemen konfrontiert zu werden, die sich in den letzten Monaten in mir angestaut hatten wie fallender Regen in stehendem Gewässer.

Als wir nur noch wenige Schritte von dem Eingang der Lagerhalle entfernt waren, blieb Ryan stehen und drehte sich noch einmal zu mir um. Das trübe Mondlicht schwebte über uns und ließ die Schatten der langen Äste über sein Gesicht hüpfen. Er griff auch nach meiner anderen Hand. Mein Herz klopfte nervös gegen meinen Brustkorb, als Ryan sich so weit vorlehnte, dass sich unsere Nasenspitzen berührten.

Schreie klirrten wie fallendes Glas in meinen Ohren. Ich zuckte erschrocken zusammen und riss die Augen auf, bevor ich spürte wie Ryan meine Hand drückte und sich keine Sekunde später von mir löste. „Hilfe! Ich brauche Hilfe!" Eine junge Männerstimme kratzte in meinen Ohren und mein Herz schlug weiterhin misstrauisch gegen meinen Brustkorb.
Erst erkannte ich gar nichts. Auf meinen Sinnen lag noch immer ein schummriger Nebel und in meinem Kopf schrien Fragezeichen, pumpten sofort Adrenalin durch meine Adern, bis ich die Umrisse einer Gestalt erkennen konnte, die geradewegs auf uns zurannte. Ryan hatte sie anscheinend auch entdeckt, denn er drückte die Schultern durch und schob sich vor mich. Mit klopfendem Herzen trat ich neben ihm hervor. Ryans Blick zuckte kurz zu mir und schien nicht begeistert, aber ich ignorierte es und konzentrierte mich stattdessen auf die Person vor uns.

Die Augen des Jungen, der vor uns zum Stehen kam, waren von tiefen Augenringen und dunklen Tränensäcken umrandet. Die Spuren von starkem Alkohol und Drogen zeichneten sich deutlich in seinem Gesicht ab und ich musterte ihn eingehend, in der Hoffnung, einen Grund für seine lauten Schreie zu finden. Sein Atem ging so schnell und tief, dass ich befürchtete, er würde jeden Moment vor uns zusammenbrechen.

„Ich", fing er an, bekam aber keine Luft. Ryans Augenbrauen wanderten fragend in die Höhe, aber der Junge hatte währenddessen mich entdeckt und starrte mir mit großen Augen entgegen. „Ich kenn dich", er machte wieder eine Pause und räusperte sich kurz, „Ich habe dich schon Mal bei ihm gesehen." Er fuhr sich durch die langen Strähnen, bevor er weitersprach und sich ein mulmiges Gefühl in meinem Magen ausbreitete. „Du bist seine Schwester, oder?"

Mein Atem stockte, ehe ich verwirrt die Stirn runzelte. „Wessen Schwester?"

Es fiel ihm immer noch schwer, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen und mein Herz pochte immer schneller gegen meine Brust, während sich der stechende Geruch von Alkohol und Schweiß in meine Nase biss. „Von ihm. Von Malek." Seine Stimme brach, bevor er sich hilflos an den Kopf fasste und ich die Ohnmacht in seinen Augen sah. „Was ist mit ihm?"

Sein Kinn zitterte, als er sich wieder zu mir wandte. „Malek ist tot", kam es atemlos von ihm und die Welt hörte auf sich zu drehen. Mein Sichtfeld verschwamm zu einer dunklen Fläche, meine Knie wurden weich, drohten nachzugeben, bis ich spürte, wie Nähte aufplatzten. Eine Hand griff nach mir. Oder zwei. Meine Gedanken schwiegen, mein Atem wurde schwer, während mein ganzer Körper erstarrte. Ich hatte das seltsame Gefühl, neben mir zu stehen und auf mich hinunterzuschauen. Merkwürdig.

Das alles ist so merkwürdig.

Die Hände, die nach mir gegriffen hatten, schienen mich zurück auf die Beine zu ziehen und zerrten mich entschlossen mit sich. Ich blinzelte erschrocken.

Meine Beine stolperten hilflos, während ich Ryans Rücken vor mir erkannte. Meine Augen glitten zu seiner Hand an meinem Unterarm. Als hätte er meinen Blick bemerkt, wanderte seine Hand tiefer und umfasste stattdessen meine Hand. Orientierungslosigkeit schlug Wurzeln und wucherte durch meinen Körper, fraß sich wie ein Virus durch jede Faser meines Körpers. Ich blinzelte erneut.

Das Bild von einem toten Malek flackerte vor mir auf, vermischte sich mit denen meiner Eltern und ließ etwas in mir zu Boden krachen. Ich bekam keine Luft mehr, konnte nichts mehr sehen, bis mich plötzlich jemand an den Oberarmen packte und schüttelte. Ich blinzelte gegen Ryans Gesicht an. Seine Lippen bewegten sich und formten sich zu Worten, die ich nicht verstand.

Er wandte sich kurz zu dem Jungen, sprach auch auf ihn ein, während mein Blick wie in Trance zu Boden glitt und ich meinen Bruder anstarrte. Als hätte mir jemand einen kalten Eimer Wasser über den Kopf geschüttet, trat ich auf ihn zu und fiel vor ihm auf die Knie. „Malek!" Mein Schrei hallte in mir wider, als ich nach seinen Schultern griff und ihn sanft an den Schultern schüttelte.  Er sollte aufwachen. Er sollte einfach wieder die Augen öffnen und mich anschauen.

Sie blieben geschlossen.

Mein Kopf schoss zu Ryan, als er sich auf die andere Seite von Malek fallen ließ, zwei seiner Finger auf seinen Hals legte und anschließend meinem Blick begegnete. „Er lebt." Ryan zitterte nicht mal, während er sich über Malek beugte, seinen Hals überstreckte, das Kinn anhob und die Atmung kontrollierte. „Aber er atmet nicht", erklärte er ruhig und ich beobachtete Maleks Brustkorb. Er bewegte sich nicht. „Weißt du, was er genommen hat?", richtete sich Ryan an den Jungen, der ein paar Meter abseits von uns stand und jede Bewegung von Ryan zu verfolgen schien. Mein Blick blieb an der Alkoholflasche in seiner Hand hängen.

„Alkohol", murmelte der Junge währenddessen, als wäre es ihm unangenehm.

Nur Alkohol?

Ryan drehte sich in die Richtung des Jungen, sodass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Seine zwei Finger lagen immer noch auf Maleks Hals. „Was noch?", drängte er. Der Typ zuckte als Antwort mit den Schultern und wich Ryans Blick aus. „Heroin, Crack. Sowas halt."

Schweigend wandte sich Ryan wieder zu Malek, legte eine Hand unter sein Kinn, zog es nach oben und hielt mit dem Daumen seinen Mund offen. Die andere Hand legte er auf seine Stirn und drückte mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu, ehe er konzentriert Luft holte und seine Lippen auf Maleks legte.

Ich wollte genauso ruhig bleiben, genauso rational handeln und helfen, aber alles schien sich zu drehen. Schwarze Punkte flirrten vor meinen Augen, während sich meine Finger hilflos in die feuchte Erde krallten und die hysterischen Schreie meines Brustkorbes unkontrolliert an den Wänden meines Körpers widerhallten.

Ich schnappte erschrocken nach Luft, als sich plötzlich eine Hand an meine Wange legte. Ryans Blick begegnete meinem. „Ruhig atmen, okay?" Meine Brust hob und senkte sich bei seinen Worten ungleichmäßig und ich starrte ihn und Malek abwechselnd an. Zwei Finger von Ryans Hand lagen wieder an dem Punkt auf Maleks Hals, wo seine Halsschlagader synchron zu den Schlägen seines Herzens pulsierte. „Hey, schau mich an, Ali." Er umfasste sanft mein Kinn und drehte meinen Kopf in seine Richtung. „Mach mir nach." Er ließ mich nicht aus den Augen, während er tief ein-und ausatmete. Zitternd folgte ich seiner Anweisung und nickte.

Ryan lächelte. „Er schafft das."

***

Randnotiz: Wir kommen dem Ende näher...

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now