14. Kapitel - Fremde

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„Leute, ich glaube wir haben uns verlaufen." Bei Tareks Worten wanderte mein Blick zu ihm und ich bemerkte die Erschöpfung in seiner Haltung, an dem schwachen Schweißfilm auf seiner Stirn, während er auf das schiefe Schild vor uns starrte. „Wir laufen schon seit Stunden diesen beschissenen Feldweg entlang." Er seufzte und ich genoss den Schatten, den die anderen warfen. „Wir sind richtig", erwiderte Ryan tonlos, ehe er an dem Schild vorging und dafür sorgte, dass ihm die gesamte Gruppe folgte. Was blieb ihnen auch anders übrig? Es schien hier nur einen Weg zu geben und der lag vor und hinter uns.

Die Menschen in meiner Nähe wurden Minute für Minute müder und ihre Schritte mühsamer, während der Nachmittag dem Abend in die Arme fiel. Vor uns erstreckte sich ein kleines Dorf, jedoch wussten wir nicht, ob es das richtige war. Panik mischte sich unter meine Gedanken.

„Warum trägst du eigentlich kein Kopftuch?", fragte der Junge, der plötzlich wieder neben lief.

Verwirrt blinzelte ich ihn an. Wie kam er in diesem Moment auf so eine konfuse Frage? „Er ist kaputt gegangen", antwortete ich und hielt es nicht für nötig, zu erwähnen, dass Malek vermutlich verblutet wäre, hätte ich den Hijab nicht dabei gehabt.

„Ich kann mir dich gar nicht mit Kopftuch vorstellen", gab der Junge zu und ich hob fragend die Augenbrauen, weil ich nicht verstand, worauf er hinaus wollte, aber er wandte sich wieder nach vorne. Ich hatte das Gefühl, die gesamte Gruppe war langsamer geworden, weil wir nicht mehr konnten, aber auch, um nicht ankommen zu müssen. Wir hatten Angst, dass wir nicht richtig waren. Dass uns dieses Dorf mehr Kraft nehmen würde, als wir momentan zu bieten hatten.

„Sind das da vorne Menschen?", fragte der ältere Mann und ich beobachtete die Ferne, in der sich Schatten auf uns zu bewegten.

„Hey." Tarek streckte seine Hand nach mir aus. „Hm?", murmelte ich und versuchte das Adrenalin, das meine Ängste kitzelte, ruhiger zu stimmen, indem ich mich auf seine grünen Augen konzentrierte.

Es half nicht.

Mein Blick huschte zurück nach vorne, zu den fremden Gestalten, die mit jedem Schritt, den wir und sie taten, größer wurden. Tarek berührte mich an der Schulter, sodass ich erneut zu ihm sah. „Was denn?"

Er ließ mich los und lächelte leicht. „Du musst langsamer atmen."

Ryan blickte in unsere Richtung und musterte mich nachdenklich, bevor er mit einem Nicken zustimmte.

Ich schloss kurz die Augen und versuchte meine Atmung zu stabilisieren.

„Okay Leute, am besten redet keiner von euch und denkt dran, wir sind eine ganz normale Gruppe an Menschen, die einen kleinen Ausflug machen", erklärte Ryan und schien währenddessen die Ruhe in Person zu sein. „Falls wir uns trennen müssen, bleibt ihr vier", Ryan deutete auf die Mutter, ihr Kind, den Jungen und den älteren Mann, „Und der Rest zusammen, verstanden?", gab er an und wir nickten.

Wir sollen also bloß nicht zeigen, wie kaputt wir sind.

Es waren vier junge Männer, die torkelnd auf uns zu schlenderten. Sie liefen, wie unser früherer Nachbar, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte.

Als sie nur noch wenige Schritte von uns entfernt waren, nickte Ryan ihnen freundlich zu und der vordere Mann tat es ihm gleich, jedoch lächelte er nicht. Die Frau vor mir drückte ihr Kind fester an ihre Brust und auch ich bemerkte erst jetzt, dass ich Aadil automatisch enger an meine Oberkörper gepresst hatte. Außer Ryan schien keiner weder zu lächeln, noch in irgendeiner Weise ruhig und gelassen bleiben zu können. Wir waren angespannt, als würde die Anwesenheit von diesen fremden Männern an den Türen unserer Ängste und Befürchtungen klopfen.

Plötzlich hielt der Fremde an und fixierte den älteren Mann aus unserer Gruppe, der außen lief und den Blick immer noch gesenkt hielt. Der Betrunkene trat auf ihn zu und stieß ihn grob an den Schultern zurück, sodass Ryan und somit die gesamte Gruppe stehenblieb. Als Ryan auf ihn zutrat, sah ich, dass sich nun auch sein Gesichtsausdruck verändert hatte. „Hey!" Seine Stimme war laut, während er auf die beiden zulief, aber der Mann hob lediglich die Augenbrauen und hob provokativ einen Mundwinkel. Ich presste die Lippen fest aufeinander, um mich daran zu erinnern, dass ich mich nicht einmischen und den Mund halten sollte, sodass sich ein metallischer Geschmack auf meiner Zunge ausbreitete. Mein Herz schlug schneller. Als der ältere Mann den Blick hob und seinem Gegenüber in die Augen blickte, ging alles so schnell, dass ich zuerst nicht begriff, was dort vor mir geschah. Ich sah, wie Ryan bei ihnen ankam, aber der Fremde hatte bereits mit der Hand ausgeholt und ließ die Faust gegen den Kiefer des älteren Mannes krachen, der instinktiv die Arme hob und sich versuchte zu schützen. Ryans Hand legte sich auf die Schulter des Mannes, ehe er so stark rumgewirbelt wurde, dass er überrascht zur Seite taumelte. Ryan hatte die Zähne fest zusammengebissen, während die Freunde des Fremden drohend einen Schritt auf sie zu machten. Zwar stand Ryan mit dem Rücken zu ihnen, aber anscheinend hatte er es ebenfalls bemerkt, denn er hob warnend die Hand, ließ dabei jedoch den Mann vor ihm nicht aus den Augen. Griechische Worte verließen seine Lippen und auch wenn ich ihn nicht verstand, war mir klar, dass es keine netten waren.

Als ich bemerkte, wie die anderen Männer uns beobachteten, sah ich, dass sie irritiert waren. Vermutlich fragten sie sich, warum nur Ryan eingriff und wir schweigend daneben standen. Gerne hätte ich mich eingemischt und mit Worten um mich geschmissen, aber sie würden mich nicht verstehen und umgekehrt genauso.

„Τι κάνεις εδώ?"

Ich stand stocksteif da und lauschte der fremden Sprache. Die Freunde des Mannes musterten uns angewidert.  „Βρωμάς", kommentierte einer und ich schluckte. Nur wenige Worte kannte ich von den letzten Besuchen bei meiner Großmutter, aber die des Fremden hatte ich verstanden. Früher, als Malek und ich von draußen zurück gekommen waren, hatte Oma meistens nur lächelnd den Kopf geschüttelt und uns unter die Dusche geschickt mit den Worten „Ihr stinkt." Aber bei ihr hatte es nicht so ernst und bedrohlich gewirkt wie bei dem Mann, der nur wenige Schritte von mir entfernt war.

„Τι θέλεις, μαλάκα?"

Zwar verstand ich ihn nicht, aber seine laute Stimme ließ meinen Vorstellungen nicht viel Spielraum. Ryans Blick zuckte zu mir und ich hielt den Atem an, als der Mann vor ihm ebenfalls in meine Richtung blickte. Ich wagte es nicht zu blinzeln und lauschte stattdessen den schnellen Schlägen meines Herzens, das mir aus der Brust zu springen versuchte. „Ω, ποιον έχουμε εδώ?" Während der Fremde sprach, breitete sich ein schiefes Grinsen auf seinen Lippen auf und er machte einen Schritt auf mich zu. Instinktiv wich ich zwei zurück und sah zu Ryan, dessen Gesichtsausdruck sich schlagartig verändert hatte. Er wirbelte den Mann zum zweiten Mal an der Schulter zu ihm herum und sagte etwas zu ihm, das in dem Kreischen meiner panischen Gedanken unterging. Statt etwas zu erwidern, ballte er die Hand zur Faust und holte erneut zum Schlag aus, jedoch duckte Ryan sich, sodass er das Gleichgewicht verlor und einige Schritte vorwärts stolperte. Ich nutzte die Zeit und blickte mich suchend um. Ein hohes Maisfeld erstreckte sich neben uns. Als ich wieder zu Ryan sah, begegneten sich unsere Blicke und er nickte kaum merklich.

Ich verstand.

„Lauft!", rief Ryan und ich drückte Aadil enger an meine Brust, bevor ich zu Malek rannte und gemeinsam mit Tarek, der meinen Bruder immer noch von der anderen Seite stützte, in die Richtung des Maisfeldes lief. Als hätte sie unsere Entschlossenheit aus ihrer Starre gelöst, bewegten sich plötzlich auch die anderen und schienen uns zu folgen. Die Kraft, die ich aufbringen musste, um Malek und Aadil aufrechthalten zu können, hinderte mich daran, mich umzusehen, um sicherzugehen, dass Ryan hinter uns war. Uns blieb nichts anderes übrig, als weiter zu flüchten.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now