Zögernd ging ich zur Eingangstür und griff nach der Klinke. Ich wusste, dass Ryan warten würde, bis er mich nicht mehr sehen konnte, und dennoch drehte ich mich nicht erneut zu ihm um. Ich drückte die Holztür auf und trat ins Restaurant. Es war warm und altmodisch eingerichtet.
Während ich in die Richtung der Theke ging, blickte ich mich um. Kleine Tische mit Plastikstühlen füllten den Raum, an dessen Wände alte Bilder hingen, die so aussahen wie das abgeblätterte Willkommensschild, das draußen an der Tür gehangen hatte.
„Was kann ich dir bringen?", erklang plötzlich eine fremde Mädchenstimme. Überrascht drehte ich mich wieder zur Theke und sah in die Augen des Mädchens. Ihre braunen Reh-Augen bohrten sich in meine, bevor sie die schwarzen Brauen hob, die durch ihre dunklen, kurz geschorenen Haare stärker auffielen. „Ja?" Erwartung lag in ihren Augen.
„Ich bin hier wegen des Jobs", antwortete ich unsicher, da ich nicht wusste, ob ich die richtigen Worte auf englisch benutzte. Sie schien mich jedoch zu verstehen, denn sie blickte mich nicht mehr so an, als wäre ich falsch abgebogen. „Warte hier, ich bin sofort wieder da." Sie verschwand hinter einer Tür und schien sich mit jemandem zu unterhalten.
Mein Blick schweifte ein weiteres Mal durch den Raum und blieb an der kleinen Bühne am Ende des Raumes hängen. Zumindest vermutete ich, dass es eine war. Links entdeckte ich eine winzige Treppe, die auf das Podium führte, auf dem ein Mikrofon aufgebaut worden war. Die Bühne war so klein, dass sie sich nur leicht vom Rest abhob und die Treppe eigentlich nicht von Nöten war. Vermutlich war das auch der Grund dafür, dass ich die kleine Erhebung erst jetzt wahrgenommen hatte.
Wer singt hier?
Die junge Frau von eben kam wieder durch Tür und blickte hinter sich. Ein erwachsener Mann verweilte im Türrahmen und schaute in meine Richtung, aber sah mir dabei nicht in die Augen. „Wie heißt du, Mädchen?" Ich musterte ihn. „Aleyna."
Er nickte und schien so, als hätte er meinen Namen schon wieder vergessen oder gar nicht erst aufgenommen. „Zeig ihr, was sie tun soll und gib ihr ordentliche Klamotten." Mit diesen Worten wandte er sich wieder ab.
Das Mädchen rollte mit den Augen, bevor ihr Blick wieder zu mir wanderte. „Klingt doch super, oder?" Ich lächelte etwas unbehaglich.
Es war nicht ein einziger Gast zu sehen, was irgendwie verständlich war, angesichts der Tatsache, dass sich die Atmosphäre hier nicht wirklich von anderen einsamen Minuten abhob.
„Ich bin übrigens Elif." Sie kam hinter der Theke hervor und deutete mir ihr zu folgen. „Also theoretisch musst du nur Teller abwaschen, dafür sorgen, dass alles einigermaßen sauber bleibt und beim Backen und Kochen helfen?"
Ich nickte. Das klang nicht nach sonderlich viel Arbeit.
„Ach, putzen solltest du natürlich auch. Also wenn dich hier etwas besonders stört, mach es einfach weg."
Ich nickte wieder. Sie redete so schnelles Englisch, dass ich ein paar Sekunden brauchte, um all ihre Worte zu verstehen.
„Wie du vielleicht unschwer erkennen kannst, arbeiten ab sofort nur du und ich hier. Obwohl", sie machte eine Pause und schien kurz zu überlegen. „Das stimmt gar nicht. Flynn kommt auch manchmal. Den übersieht man aber schnell."
Elif hielt vor einem Schrank und öffnete eine der mittleren Schubladen, bevor sie mir eine dunkelgrüne Schürze entgegenhielt. Überrascht starrte ich sie an.
„Ich weiß. Ich musste auch erst mal tief Luft holen, als ich herausgefunden habe, dass es für diesen Drecksladen tatsächlich Schürzen gibt." Ich lächelte etwas verwirrt. „Ich mein, ein Türglöckchen hätt's doch wohl auch getan."
Ich nahm die Schürze zögernd entgegen und band sie mir um, ehe Elif zügig weiterlief. „Magst du Musik?", fragte sie und blickte interessiert über ihre Schulter zu mir.
„Ja." Sie hielt vor einer Tür und deutete mir einzutreten. Ich ging in den kleinen Raum hinein. Der Boden quietschte unter meinen Schritten, während ich mich aufmerksam umsah. Ein weißer Tisch stand in einer Ecke. Der Spiegel an der Wand war von einer grauen Staubschicht überzogen und hatte lauter kleine, schwarze Flecken, die vermutlich von einem der Kajalstifte auf dem Tisch kamen. Früher hatte Muma mich auch immer an besonderen Anlässen geschminkt. Ich schloss kurz die Augen und versuchte die Erinnerung zurückzudrängen.
„Da du jetzt hier arbeitest, muss ich dich leider bitten, das da", sie deutete auf meine Kleidung. „Auszuziehen und stattdessen eines der Dinge dort zu nehmen." Sie deutete mit einer Handbewegung in die Richtung der Garderobe, die auf der anderen Seite des Zimmers stand.
Ehe ich auf die Sachen zu gehen konnte, drückten mich Elifs Hände auf den Hocker vor dem Schminktisch und ich blickte erschrocken zu ihr auf.
„Lass mich das mal machen." Sie ging die Kleidung durch, zog immer mal wieder etwas heraus und hielt es vor mich, aber schien sich jedes Mal dagegen zu entscheiden. Ein paar Minuten vergingen, in denen ich sie schweigend dabei beobachtete, wie sie die richtigen Anziehsachen für mich raussuchte, bis sie endlich etwas gefunden hatte. „Das ist es", seufzte sie erleichtert und hielt es mir auffordernd hin. Es war ein schlichtes, fliederfarbenes Blümchenkleid, das ich ihr unschlüssig abnahm.
„Ich würde dich ja gerne schminken, aber wenn wir noch länger hier drinnen bleiben, feuert uns William noch. Nicht, dass das schlimm wäre." Mit diesen Worten ging sie an mir vorbei und zog die Tür wieder auf. „Komm einfach nach vorne, wenn du fertig bist."
***
Das Kleid schmiegte sich locker an meinen Körper, und obwohl ich Kleidern gegenüber eher abgeneigt war, fühlte ich mich wohl. Ich zog mir die Schürze schnell über, ehe ich meine Sachen in den Rucksack stopfte und mit ihm zügig wieder nach vorne ging.
„Siehst toll aus." Während Elif hinter der Theke etwas auf einen kleinen Block schrieb, trat ich zu ihr und bemerkte, dass tatsächlich ein paar Gäste den Laden betreten hatten. „Was soll ich tun?", fragte ich und musterte die fremden Menschen an den Tischen genauer. Ein älterer Mann saß in der zweiten Reihe vor der Bühne, wohingegen sich ein junges Pärchen weiter hinten unterhielt.
Als Antwort trat Elif durch die Tür, hinter der der Mann von eben verschwunden war und deutete mir an ihr zu folgen. „Da mir gesagt wurde, dass du die Menschen erstmal nicht bedienen darfst, kommst du in die Küche." Sie grinste mich an, während wir in einen Raum traten, der sehr nach einer Küche aussah.
„Also, ich hoffe einfach, dass du schon mal gekocht und gebacken hast. Hier sind ein paar Rezepte." Sie griff nach einem Stapel Blätter und breitete sie auf dem Küchentresen aus. „Die Schränke sind extra beschriftet, du solltest also nicht allzu lange brauchen, um die Zutaten zu finden. Du hast übrigens ziemlich Glück." Sie wühlte zwischen den Blättern, bis sie mir drei entgegenhielt. „Die Leute da draußen geben sich heute anscheinend mit sehr einfachen Dingen zufrieden." Nachdem sie endlich aufgehört hatte zu reden, schaute ich sie mit großen Augen an. Ich hatte damit gerechnet, hier nichts weiter als die zu sein, die die Teller abwusch und alles sauber machte. Schließlich war das so ziemlich die wichtigste Arbeit, die man hier bekommen konnte.
„Ich weiß, du hast etwas Anderes erwartet, aber Süße im Leben kommt nun mal nicht alles so, wie man es sich vorstellt." Sie lehnte sich gegen den Tresen und legte den Kopf schief. „Und abgesehen davon, wird das nur heute so sein. Normalerweise kocht und backt Flynn, aber da der noch nicht da ist, vertraue ich heute einfach mal auf deine Künste."
Ich nickte langsam und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mich schwertat, all ihren Worten zu folgen.
„Okay." Ich blickte auf die drei Rezepte, die Elif mir in die Hände gedrückt hatte. Zitronenkuchen, Feines Teegebäck und Scones waren die Überschriften.
„Ich komm dann gleich noch mal vorbei, okay?" Ich sah von den Blättern auf und nickte, ehe sie mich noch einmal anlächelte und in Richtung Flur ging.
„Ach, Aleyna?" Sie drehte sich noch einmal zur mir um.
Fragend beobachtete ich sie dabei, wie sie in ihre Hosentasche griff und ein Haargummi herauszog. „Hier. Es wäre besser, wenn du dir einen Zopf machst."
Ich legte die Blätter zurück auf den Tresen, ehe ich das Gummi entgegennahm und mir die Haare zu einem Zopf band. Als ich fertig war und Elif zufrieden nickte, verschwand sie im Gang und ließ mich ratlos mit den Rezepten zurück.
DU LIEST GERADE
Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessen
Teen FictionDie Geschichte eines Mädchens, das sich selbst verlor. Eine Geschichte über Krieg, Flucht und was es heißt ein Mensch zu sein. *** „Ich bin lebendig, weil ich eine Kämpferin bin. Klug, weil ich Fehler gemacht habe und ich kann lachen, weil ich die T...