Mein Vater hatte damals gesagt, das Abschiednehmen von Zurückbleibenden wäre das Los der Vorwärtsschreitenden.
Diese Worte waren damals zum Leitfaden geworden, an den ich mich geklammert hatte, in der Hoffnung, er würde mich aus diesen dunklen Zeiten holen.
Nach ihrem Tod war uns allen bewusst, dass wir nicht einfach so weiterleben konnten, denn alles schien uns an sie zu erinnern. Die bunten Bilder, die sie überall im Haus aufgehängt hatte. Ihre Schwäche für Duftkerzen, deren Düfte noch lange schwer in der Luft gelegen hatten. Ich konnte mich noch an ihr Lächeln erinnern. Ein echtes Lächeln, das schöner nicht hätte sein können.
„Hey." Tarek riss mich zurück aus den Gedanken und ich räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Als sich unsere Blicke begegneten, konnte ich es auch in seinen Augen erkennen. Für uns beide stellte die Zukunft zugleich unsere größte Angst und unsere hellste Hoffnung dar. Ich lächelte leicht.
„Alles okay?" Tarek hob fragend die Augenbrauen, ehe ich eilig nickte. Schweigend bogen wir in die nächste Gasse ab und der Geruch von Alkohol und Erbrochenem stach mir in die Nase. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Ryan blindlings entschied, wo lang wir gingen, denn es waren immer die Gassen, aus denen das meiste Licht kam, für die er sich entschied. Mir war gar nicht aufgefallen, dass die anderen stehen geblieben waren, bis sich die Gasse plötzlich öffnete und sich ein kleiner Hof auftat.
„Erkennst du hier irgendetwas wieder?", fragte Ryan und trat langsam neben mich. Zögernd schüttelte ich den Kopf, denn ich schämte mich dafür, uns nicht helfen zu können.
Ryan nickte, bevor er weiterging und Tarek und ich ihm folgten. Aadil hatte den Kopf neugierig nach vorne gerichtet und schien die Gegend zu beobachten. Die Sonnenstrahlen, die der Nachmittag übriggelassen hatten, schienen über die Dächer und lugten auf den Hof hinunter.
Vereinzelte Menschen bogen in andere Gassen ab, während ich mich auf die Umgebung konzentrierte und versuchte mich an frühere Zeiten zu erinnern. An die Zeit, in der Malek und ich lachend durch die bunten Straßen gelaufen waren und uns darum gestritten hatten, wer als erstes den anderen fing.
Als mein Blick an einem Schild hängen blieb, hielt ich inne. Die Schrift war mit Rost überzogen und sah alt aus, aber der Name war noch zu erkennen. Aiantos.
Ryan hatte mir bereits gesagt, dass wir in Aiantos waren, aber es zu lesen, war noch einmal etwas Anderes. Die Buchstaben, die zwar nicht auf meiner Sprache waren, aber die ich dennoch verstand, hüpften unruhig durch meinen Kopf.
Ich schaute mich um, während sich die Orientierung zaghaft durch meine Gedanken tastete. „Ich glaube, ich weiß, wo wir sind", dachte ich laut und sah hinüber zu Tarek, Ryan und Malek.
„Wir müssen da lang", erklärte ich, als Tarek abrupt stolperte und Ryan ihn automatisch mit der freien Hand am T-Shirt festhielt. Sofort lief ich auf die beiden zu und legte Tareks Arm um meine Schulter, um ihn zu stützen. „Los."
Meine Schritte waren plötzlich nicht mehr unsicher, weil ich nun durch die Straßen einer alten Heimat lief. Zwar war ich nur wenige Male mit meiner Familie bei meiner Großmutter gewesen, jedoch brauchte es momentan nicht viel, um mir eine Heimat zu sein. Die Erinnerungen, die ich mit dieser Stadt verband, waren nicht viele, aber zumindest waren sie noch ganz.
Die Menschen, die uns auf dem Weg begegneten, beäugten uns mit distanziertem Misstrauen und schienen beim Vorbeigehen wissentlich einen größeren Bogen um uns zu machen. Ihre Blicke verharrten an Malek, der immer noch auf Ryans Schulter lag, aber niemand schien uns für längere Zeit in die Augen schauen zu wollen. Mitleid und Ekel laß ich in ihren Augen, während wir über den Bürgersteig gingen und jeder von uns versuchte, die Abneigung in ihren Blicken zu ignorieren. Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen, egal wohin wir gehen würden, automatisch nach einer Schublade suchen würden, in die wir passten. Auch wenn wir normal waren - was auch immer das sein sollte - würden sie eine finden.
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Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessen
Teen FictionDie Geschichte eines Mädchens, das sich selbst verlor. Eine Geschichte über Krieg, Flucht und was es heißt ein Mensch zu sein. *** „Ich bin lebendig, weil ich eine Kämpferin bin. Klug, weil ich Fehler gemacht habe und ich kann lachen, weil ich die T...